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Unterwegs: Ein Vogel und der einsamste Killerwal der Welt

Nach drei Monaten kehre ich auf dem Seeweg von Kanada in die USA zurück.

Mit der Schnellfähre von Kanada in die USA

Zwischen Victoria, der Hauptstadt von Britisch-Kolumbien an der Südspitze von Vancouver Island, und der Stadt Seattle im Nordwesten den USA liegen per Luftlinie knapp 120 Kilometer. Dazwischen liegt die Pazifikbucht des Puget Sound.

Frachtschiff verlässt den Hafen von Victoria ©Rebecca Hillauer
Nach drei Monaten in Britisch-Kolumbien kehre ich in die USA zurück. Die drei Monate waren so voll mit dem Kennenlernen eines mir bis dahin unbekannten Landes, mit zwischenmenschlichen Begegnungen und mit Recherchen für Radiofeature, dass ich nur über einige wenige Erlebnisse geschrieben habe. Ich will aber das Versäumte noch aufholen, bevor ich weiterreise. Denn ich möchte gern, dass Sie mich auf meiner Reise begleiten. Ich werde also quasi erzählerisch eine Schleife machen - angefangen von meiner Rückfahrt in die USA und über meine Stationen in Kanada zurück zu meiner gegenwärtigen Reiseroute. Viel vorgenommen... lassen Sie es mich anpacken. 

Ich buche eine Fahrt mit dem FRS Clipper, einem US-amerikanischen Unternehmen, was sich aus dem blau-rot-weißen Anstrich des Schiffbugs leicht ableiten lässt. Die Schnellfähre bringt ihre Passagiere in 2,5 Stunden von Victoria, der Hauptstadt von Britisch-Kolumbien, auf Vancouver Island, nach Seattle im US-Staat Washington – und umgekehrt. Die Alternativen – mit der Fähre von Victoria aufs Festland nach Vancouver und dann weiter mit dem Zug nach Seattle – dauert mehr als zehn Stunden. Die zweite Variante mit Fähre über den Puget Sound auf das amerikanische Festland nach Port Angeles und dann weiter mit dem Bus hätte immerhin noch gut sechs Stunden gedauert. Ein Flugzeug würde es von einer Stadt in die andere in nur 51 Minuten schaffen, doch zum einen bin ich umweltbewusst und, außerdem, nach einem Monat Aufenthalt in Victoria am Pazifischen Ozean will ich das Meer noch so lange wie möglich sehen – und vielleicht sogar einige Wale beobachten können.

Die Zoll- und Passkontrolle wird vor dem Ablegen am Pier durchgeführt. Etliche Bekannte hatten Bedenken angemeldet, ob ich keine Angst hätte, womöglich von US-Zollbeamten abgewiesen oder, noch schlimmer, vielleicht sogar inhaftiert zu werden. Wo es doch inzwischen viele solcher abschreckenden Beispiele gäbe. Nein, Angst hatte ich nicht. Auf die Idee, nicht „rein gelassen“ zu werden, kam ich eigentlich erst durch diese Nachfragen. Und meine Erfahrung war dann: Sobald die Zollbeamten merken, dass ich mit einem Journalistenvisum reise, behandeln sie mich besonders höflich. So nehme ich es zumindest wahr. Die Zoll- und Passabfertigung läuft wie am Schnürchen.

Ich habe einen Sitzplatz in der billigsten Economy-Klasse gebucht. Ich würde sowieso draußen auf dem Deck stehen – und nach Walen Ausschau halten. So meine Vorstellung. Und das tue ich nun auch. Es ist ein bewölkter, aber milder Tag. Ich stehe auf dem Hinterdeck, gegen die Schiffskabine gelehnt, so dass der Fahrtwind mir nicht direkt ins Gesicht blasen kann. Ich lasse meine Augen schweifen. Ich schaue vor allem nach Westen – auf die dem offenen Meer beziehungsweise der US-amerikanischen Küstenspitze zugewandte Seite. Entlang der Olympischen Halbinsel zieht sich das sanfte Auf und Ab der Hügel und des Hoh Regenwalds.

Ich war dort im September 2019, vor fast genau sechs Jahren, und habe den Regenwald geliebt. Der Grund für meine Reise damals war der Rückbau der beiden Staudämme am Elwha River, der den natürlichen Lauf der Lachse wiederbeleben sollte. Darüber habe ich für den deutschen und österreichischen Rundfunk berichtet. Und über den Sound Tracker (Klangjäger), Gordon Hempton, der unter dem Motto „Die Erde ist eine solarbetriebene Jukebox“ mit seinem Mikrofon die Stille der Natur aufnimmt und im Hoh Rainforest „einen Quadratzentimenter der Stille“, symbolisiert durch einen kleinen roten Stein, eingerichtet hat. An ihn, Hempton, muss ich denken, als ich von dem FRS Clipper aus auf die Silhoutte der Olympischen Halbinsel schaue.

Doch zurück in die Gegenwart: Mein Blick fällt auf einen kleinen schwarzgefiederten Vogel, der mit schnellen scharfen Flügelschlägen neben der Fähre herfliegt. Was für ein Vogel es ist, kann ich nicht erkennen, nur dass es keine Möwe ist. Der Vogel ist wesentlich kleiner und zieht mich in sinen Bann. Wie kann ein so kleines Geschöpf so schnell fliegen – und noch dazu gegen den Wind, wie dieses moderne Schiff mit seinen beiden Außenbordmotoren durchs Wasser pflügt? Bis ich endlich mein Smartphone zücke, sind bereits Minuten unseres gemeinsamen Wegs verstrichen. Die Fähre macht eine leichte Linkskurve, so dass sich der Abstand zu dem kleinen Vogel vergrößert. Der biegt schließlich ebenfalls ab und entschwindet im diffusen Gegenlicht von Wellen und Wolken meinem Blick.

Kleiner Vogel neben Fähre ©Rebecca Hillauer

Einen Wal sehe ich auf der ganzen Schifffahrt nicht. Zum Glück, denke ich. Denn es dauert nur einige Minuten, bis ich mir auf meinem Beobachtungsposten auf dem Deck des ohrenbetäubenden Lärms der beiden Bordmotoren bewusst werde (die zudem noch mit Benzin oder Diesel betrieben werden und damit das Meer verschmutzen). Mir fallen alle die Artikel ein, in denen berichtet wird, wie Lärm von Schiffen die Wale in ihrem Lebensraum stört, ja sogar gefährdet. Auf Facebook bin ich auf die Gruppe „Friends of Vancouver Island“ gestoßen. Sie kritisiert die hohe Zahl der Boote kommerzieller Walbeobachter auf kanadischer wie auf US-amerikanischer Seite. Und dass die Unternehmen mit ihren Motorbooten zu nahe an die Wale und ihre Kälber heranfahren und sie mitunter über Tage und Wochen verfolgen würden. Der Administrator, Ryan Michael, will Menschen dafür sensibilisieren, Wale von Land aus zu beobachten.

Wale, das heißt, die mächtigen und dabei so sanften Blauwale sind meine Lieblingstiere. Ich beschließe, demnächst über Walbeobachtung ausführlich zu recherchieren. Fürs erste hoffe ich, umgeben vom Getöse der Bordmotoren, dass die Wale die lauten FRS Clipper-Fähren meiden. Und ich gebe mir selbst das Versprechen, das nächste Mal lieber mehr Zeit einzuplanen und eine umwelt- und walfreundlichere Transportart zu wählen.

Während ich diesen Text schreibe, erreicht mich über die Facebook-Gruppe Friends of Vancouver Island eine Hiobsbotschaft: Administrator Ryan Michael schreibt, Marineland of Canada, ein Vergnügungspark in der östlichen Provinz Ontario nahe der Niagara-Fälle, habe der kanadischen Bundesregierung ein erschreckendes Ultimatum gestellt: Entweder die Regierung stellt Notfallmittel für die Fütterung und Pflege der noch in Gefangenschaft lebenden Belugawale bereit oder sie muss mit der „direkten Konsequenz“ rechnen – der Euthanasie der Tiere.

Der Themenpark, schreibt Michael, sei seit langem wegen seiner Behandlung von Meeressäugern kritisiert worden. Seit 2019 sind in der Anlage 20 Wale verstorben, darunter Kiska, der einsamste Orca der Welt. Das Killerwal-Weibchen wurde 1979 im Alter von etwa drei Jahren im Nordatlantik gefangen und in ein Aquarium in Island gebracht, wo es kurzzeitig mit vier anderen jungen Orcas zusammenlebte, darunter Keiko, der spätere Star der „Free Willy“-Filme. Kurz darauf wurde Kiska zusammen mit Keiko an Marineland verkauft. Keiko wurde anschließend an einen Vergnügungspark in Mexiko weiterverkauft, später jedoch rehabilitiert und in die Gewässer vor Island zurückgebracht. In der Zwischenzeit brachte Kiska im Marineland fünf Kälber zur Welt. Alle starben in jungen Jahren. Studien deuten darauf hin, dass die Fähigkeit von Orcas, tiefe, komplexe Emotionen zu empfinden, der emotionalen Kapazität des Menschen gleichkommt oder diese sogar übertrifft. „Die Bindung zwischen Mutter und Kalb ist so tief, dass man sich die Trauer und das Trauma, das Kiska durch den Verlust jedes einzelnen Kalbes im Laufe der Jahre erlitten hat, kaum vorstellen kann“, betont das kanadische Whale Sanctuary Project, das sich für ein Schutzgebiet für Wale und Delphine einsetzt. Seit 2009 bis zu ihrem Tod 2023, also 14 Jahre lang, lebte Kiska allein in ihrem Betontank. Sie wurde zwar weiterhin ausgestellt, trat aber nicht mehr vor Publikum auf. Marineland-Vertreter wurden damals zitiert, Kiska „verbringt ihren Lebensabend damit, das zu tun, was sie möchte“.

Ryan Michael schreibt in seinem aktuellen Facebook-Post:

FB-Post von Ryan Michael vom 4. Oktober 2025

Als jemand, der sich seit über einem Jahrzehnt gegen Marineland ausspricht und protestiert, empfinde ich eine Mischung aus tiefer Traurigkeit und Wut über das, was gerade passiert. Der umstrittene Themenpark gibt an, dass ihm das Geld und das Futter ausgingen. In einem Brief an Fischereiministerin Joanne Thompson warnte Marineland, dass ohne ein Eingreifen der Regierung bis Dienstag, den 7. Oktober, die Euthanasie möglicherweise die einzige verbleibende Option sei.
Diese Krise kommt nur wenige Tage, nachdem Ottawa den Antrag von Marineland abgelehnt hat, 30 Belugas nach Chinas Chimelong Ocean Kingdom zu exportieren. Thompson sagte, die Entscheidung stehe im Einklang mit dem kanadischen Gesetz von 2019, das Gefangenschaft von Walen und Delfinen verbietet. Marineland argumentiert, dass ihnen damit keine Umsiedlungsmöglichkeiten mehr blieben.
Seit 2019 sind 20 Wale – darunter Kiska, der einsamste Orca der Welt, und 19 Belugas – im Marineland gestorben. Jahrzehntelang war der Park eine Touristenattraktion, die Millionen von Dollar einbrachte. Aber nach Jahren der Enthüllungen, Gerichtsverfahren, Proteste und Gesetzesänderungen brachen die Besucherzahlen ein, die finanziellen Mittel versiegten, und die Wale, die einst die Massen anzogen, werden nun nur noch als finanzielle Belastung betrachtet.
Die Realität ist herzzerreißend. Diese unglaublichen Tiere, die einst Millionen Menschen zur Unterhaltung dienten, gelten nun als entbehrlich. Marineland sagt, es könne die in Gefangenschaft geborenen Wale nicht in die Wildnis entlassen, da sie dort nicht überleben würden. Ein geplantes Schutzgebiet in Neufundland, das den Walen ein sicheres Zuhause am Meer geboten hätte, ist seit Jahren auf Eis gelegt, so dass Kanada über keine einzige Einrichtung verfügt, in der pensionierte Wale in Gefangenschaft untergebracht werden können. Ohne Schutzgebiete sind die Optionen düster: entweder bis zum Tod in Betontanks bleiben oder ins Ausland verschifft werden, um dort für Profit aufzutreten.
Die Zeit läuft ab: Wenn bis zum 7. Oktober keine Maßnahmen ergriffen werden, steht das Schicksal der überlebenden Wale auf der Kippe. Das bricht mir das Herz, und ich kann nur hoffen, dass es noch nicht zu spät ist, diese Wale zu retten 🙏

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