Politik

Hungern lassen als Kriegswaffe

Hunger als Waffe gegen Zivilisten: Gaza und ein Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg

Die Blockade von Gaza und eine historische Vorläuferin

Ausblick an einem Maimorgen, Montana ©Rebecca Hillauer

Während ich in Montana die Bilderbuchlandschaft am Flathead Lake genieße, sehe ich auf YouTube Horrorszenarien dieser Welt. Die Bilder von der hungernden Bevölkerung in Gaza erinnern mich an ein Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Begangen von Deutschen – an russischen Zivilisten.

Die Leningrader Blockade

Die Schätzungen über die Zahl der zivilen Opfer in der sowjetischen Stadt Leningrad (seit 1991 wieder Sankt Petersburg) gehen auseinander: 700.000 bis 1.500.000 Tote sollen es von Beginn 1941 bis Januar 1944 gewesen sein. Die meisten Quellen gehen von 1.100.000 Menschen aus, von denen 90 Prozent während der sogenannten Leningrader Blockade elendiglich verhungert sind. Eingekesselt von der Heeresgruppe Nord der deutschen Wehrmacht und spanischen Truppen (Blaue Division), im Norden riegelten Finnische Truppen die Stadt ab. Die Belagerung dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, also 872 Tage (ca. 28 Monate oder zwei Jahre und vier Monate).

Die Einkesselung der Stadt durch die deutschen Truppen mit dem Ziel, die Leningrader Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen, gilt als eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Kriegs gegen die Sowjetunion. Die Russische Föderation, als Rechtsnachfolger der Sowjetunion, stuft die Blockade als Völkermord ein. Am 75. Jahrestag ihrer Beendigung sagte die deutsche Bundesregierung den noch lebenden Opfern rund zwölf Millionen Euro als Wiedergutmachung zu.

Am 8. September 1941 wurde der Blockadering geschlossen. Damit wurden alle Versorgungslinien der Millionenstadt abgeschnitten. Die einzige mögliche Route, über den Ladogasee, war für die Erfordernisse der Stadt nicht ausgebaut, da es keine Anlegestelle und keine Zufahrtsstraßen gab. Die deutsche Luftwaffe bombardierte die Lebensmittellager, die Wasser- und die Elektrizitätswerke, während Schulen, Krankenhäuser und Entbindungsheime von der Artillerie unter Feuer genommen wurden. 3.000 Tonnen Mehl und 2.500 Tonnen Zucker verbrannten. Die süße Erde, in die der geschmolzene Zucker eingesickert war, wurde wochenlang zu hohen Preisen auf dem Schwarzmarkt verkauft.

Auf Wikipedia ist drastisch beschrieben, wie sich die Lage der Einwohner aussichtslos verschlechterte. Zunächst blieben die Hochschulen und Kultureinrichtungen noch geöffnet. Im August 1942 erlebte die siebte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch in der Leningrader Philharmonie ihre Uraufführung. Das Konzert wurde in der ganzen Sowjetunion übertragen und über Kurzwellenradio auch ins restliche Europa und in die USA. Zugleich wurde die Vorstellung begleitet von einem Artillerieduell. Denn die Wehrmacht versuchte, die Vorstellung zu stören, was die sowjetische Artillerie aber verhinderte.

Statt der benötigten 2000 Tonnen Lebensmitteln pro Tag gelangten höchstens 172 Tonnen in den Belagerungsring. Brot wurde mehrfach rationiert und Ersatzstoffe wie Kleie, Getreidespelzen und Zellulose beigefügt. Die Hungersnot begann. Im Winter 1941/1942 verloren die Menschen bis zu 45 Prozent ihres Körpergewichtes. In Folge bauten sie Muskelgewebe ab, Herz und Leber verkleinerten sich. Damit begann das Massensterben. Bald gab es in der Stadt keine Pferde mehr, weder Katzen oder Hunde, noch Ratten und Krähen. Gegessen wurde alles, was organischen Ursprungs war. Auch Klebstoff, Schmierfett, Tapetenkleister und Fensterkitt. Erste Fälle von Kannibalismus wurden gemeldet. Insgesamt wurden 1.025 Fälle bis zum Februar 1942 bekanntgegeben. Auf den Straßen lagen Leichen, denn viele brachen unterwegs zusammen und blieben einfach liegen. In den eiskalten Wohnungen lebten die Menschen zusammen mit ihren toten Angehörigen, die nicht beerdigt wurden, weil der Transport zum Friedhof für die entkräfteten Menschen zu beschwerlich war.

Unter dem Eindruck der Blockade verfasste der russische Autor Jewgeni Schwarz 1943 das Märchenstück Der Drache. Nach einer Voraufführung 1944 in Moskau wurden weitere Vorstellungen jedoch verboten. Auch in der Literatur durfte das Leiden der Leningrader Bevölkerung nur in den Jahren, die kurz auf die Blockade folgten, ungeschönt wiedergegeben werden. Danach wurden im Rahmen von Führungskämpfen zwischen der Zentralregierung in Moskau und Funktionären in Leningrad Bücher vernichtet, die das Schicksal der Leningrader zu „aufrichtig und grausam“ darstellten oder ihr Verhalten zu „unpatriotisch“ und „ideologielos“. In den späten 1950er Jahren wurde der Belagerung durch einen „Grüngürtel des Ruhms“ gedacht – ein Band von Bäumen und Denkmälern entlang des früheren Frontverlaufs. Leningrad erhielt den Titel Heldenstadt.

Landkarte der Belagerung CC BY-SA 4.0 Willy P

Als die Sowjetunion zerfiel, gab es eine ideologischen Öffnung, allerdings nur für kurze Zeit. Im Januar 2014 startete der Fernsehsender Doschd zum 70. Jahrestag der Aufhebung der Leningrader Blockade eine Umfrage. Hätte die Stadt „zum Schutz Tausender von Menschenleben“ nicht auch der angreifenden Wehrmacht überlassen werden können? Daraufhin verlor der laut Wikipedia „letzte unabhängige Fernsehsender Russlands“ seine landesweite Verbreitung. Zensiert wurde auch das Blockadebuch von Daniil Granin and Ales Adamowitsch, eine dokumentarische Chronik aus Augenzeugenberichten, Erinnerungen und Briefen, die 1970 zum ersten Mal erschien und die die Autoren als „ein Epos menschlichen Leidens“ bezeichneten. Im Jahr 2013 wurde es in die Liste der „100 Bücher für Schüler“ aufgenommen, die das Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Russischen Föderation Schulkindern zum selbständigen Lesen empfohlen hat.

Hinsichtlich der Rolle der Politik wird Vergangenheitsbewältigung allerdings weiter klein geschrieben. 2019 wurde der privat finanzierte Spielfilm Feiertag des Regisseurs Alexej Krasowski als „blasphemisch“ gebrandmarkt, weil er die privilegierte Versorgung von Staatsfunktionären während der Blockade thematisiert. Im selben Jahr wurde Jelena Tschischowa wegen ihres in der Schweiz publizierten Essays „Das doppelte Gedächtnis“ attackiert. Die Schriftstellerin vertritt darin die Auffassung, dass zu Sowjetzeiten die „Wahrheit über die Blockade“ verschleiert worden war, zu der Fehlentscheidungen der Behörden und Privilegien für die Funktionäre gehört hätten.

Der Völkerrechtler Christoph Safferling vertritt in einem Vortrag im Jahr 2014 die Ansicht, dass in den frühen 1940er Jahren noch keine explizite völkerrechtliche Vorschrift gegen den Einsatz von Hunger als Waffe gegen die Zivilbevölkerung existiert habe. Sie sei erst 1977 mit einem Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen eingeführt worden. Aus diesem Grund sei in den Nürnberger Prozessen gegen führende Repräsentanten des NS-Staates die Leningrader Blockade auch nicht als Kriegsverbrechen bezeichnet worden.

Und Gaza?

Im Jahr 2025, wenn die israelische Regierung Lebensmittellieferungen nach Gaza blockiert oder lediglich in homöopathischen Dosen passieren lässt, ist der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe gegen Zivilisten völkerrechtlich geächtet. Freilich handelt es sich beim Nahost-Konflikt nicht um einen offiziell deklarierten Krieg zwischen zwei souveränen Nationalstaaten, wie dies im Zweiten Weltkrieg der Fall war. Doch das zweite Zusatzprotokoll von 1977 ergänzt den gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen, der auch in nicht internationalen bewaffneten Konflikten anwendbar ist, was den Nahost-Konflikt einschließt. Was wird also aus Gaza?

Mindestens zwei Menschen wurden am Mittwoch, dem 28. Mai 2025, zu Tode gequetscht und zwei weitere tödlich verletzt, als nach 80 Tagen Blockade von Lebensmitteln Tausende von hungernden Palästinensern ein UN-Lager für humanitäre Hilfe stürmten. So berichtet das US-Politikmagazin Democracy Now. Weiter würde internationalen Ärzten und medizinischem Personal die Einreise nach Gaza zunehmend verwehrt. Kritiker sprechen von einer „nicht erklärten medizinischen Belagerung“.

Auf der Platform X kursieren unbestätigte Videos, wonach die Hamas in Gaza Zivilisten teils mit Waffengewalt davon abhalten soll, die UN-Lager mit Hilfsgütern zu erreichen. Auch würde die Hamas Lieferungen mit Lebensmitteln stehlen und überteuert an die Bevölkerung weiter verkaufen. Angeblich, um damit ihre Kämpfer zu bezahlen und neue zu rekrutieren.

Was ist Wahrheit, was Propaganda? Die Angaben zu überprüfen, ist so gut wie unmöglich – auf beiden Seiten. Nachprüfbar ist: Israelische Minister haben 22 neue Siedlungen im Westjordanland genehmigt – was nach internationalem Recht illegal ist. Darunter sind zwölf bereits bestehende Außenposten, die ohne staatliche Genehmigung errichtet wurden und nun legalisiert werden sollen. Es wäre die größte Siedlungserweiterung in der Geschichte Israels. Noch dazu inmitten von Berichten über eine Welle von Angriffen auf palästinensische Gemeinden. Siedler sollen etwa ohne Vorwarnung in ein Dorf eingedrungen sein und Häuser und Eigentum in Brand gesetzt haben. Angehörige einer Familie berichten, israelische Soldaten seien ohne vorherige Ankündigung in ihr Haus eingedrungen und hätten den 20-jährigen Jassem al-Sadda im Schlaf erschossen. Er soll verblutet sein, weil sich niemand ihm nähern und helfen durfte. Ein Grund für die Aktion wird in den Nachrichten nicht genannt.

Ein weiteres neues Gesetz in Israel sieht derweil vor, dass bereits Kinder im Alter von 12 Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt werden können. Nach Ansicht von UN-Experten zielt das Gesetz auf die Bestrafung palästinensischer Familien ab und verstößt vermutlich gegen internationales Recht, einschließlich der Kinderrechtskonvention.

Wird die Regierung von Benjamin Netanyahu so weit gehen und die zivile Bevölkerung von Gaza aushungern – wie es die deutsche Wehrmacht einst in Leningrad tat?

Und was ist mit der deutschen Bundesregierung? Sollte sie der „Staatsräson Israel“ weiterhin bedingungslos anhängen – ungeachtet etwaiger Verstöße gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte? Immer mehr Kritiker hinterfragen diese aufgrund der NS-Vergangenheit des Landes selbst auferlegte Verpflichtung und fordern, sie abzuschaffen. Oder brauche Deutschland israelische Waffensysteme für seinen militärischen Schutzschirm so dringend?

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