Syrien: Erneut fällt ein säkularer Staat in die Hände radikaler Muslime.
Kaum hat Donald Trump die Präsidentschaftswahl in den USA gewonnen, wird in Syrien Bashar al-Assad von islamistischen „Rebellen“ gestürzt – nach dreizehn Jahren Bürgerkrieg. Wer glaubt an einen zeitlichen Zufall? Einen Alleingang der Milizen? Meine Gedanken dazu und einige persönliche Erinnerungen.
Ägypten
Bevor ich vor langer Zeit einmal in meinem ursprünglichen Beruf als Sozialpädagogin in einem sogenannten Entwicklungshilfeprojekt in Ägypten tätig war, lebte ich zwei Jahre in einem Billighotel in Kairo. Ich war auf dem Weg nach Australien gewesen, blieb aber aufgrund eines verstauchten Knöchels in Ägypten quasi hängen. In dem Hotel an der Straße des 26. Juli im Stadtzentrum trafen sich Reisende aus aller Welt. Einige kehrten nach einigen Wochen immer wieder zurück, so dass wir zu einer kleinen verschworenen Gruppe zusammenwuchsen, die ihre Tage und Abende und Nächte miteinander verbrachten und sich freuten, wenn wieder jemand aus unserem Kreis von einer Reise zurückkehrte. Die Sommer über wohnten auch Sudanesen im Hotel, weil es ihnen in ihrer Heimat zu heiß wurde. Und weniger betuchte Männer aus den reichen arabischen Nachbarstaaten luden ihre Ehefrauen und Kinder in dem Hotel ab, während sie sich in einer besseren Herberge ein paar anhängselfreie Wochen gönnten.
Unsere eingeschworene Gemeinschaft erhielt regelmäßig Verstärkung durch Hassan aus dem Sudan und Abu Ahmad aus dem syrischen Aleppo. Abu Ahmad, also „Vater des Ahmad“, war ein zerbrechlich wirkender hellhäutiger Mann mit schlohweißem Haar. Er blieb jeweils über Monate in seinem Stammzimmer wohnen – so lange, bis ihn das Heimweh wieder zurück in seine Stadt trieb, die er als die schönste in ganz Syrien beschrieb. Wie oft lud er mich dorthin ein: Ich bin nie hingefahren. Mich schreckten Berichte anderer Reisender ab, die in Syrien gewesen waren und von einem „Polizeistaat“ erzählten, in dem die Menschen sich gegenseitig bespitzeln würden. DDR-mäßig. Und auch Reisende unter Beobachtung stünden. Im Rückblick bedauere ich sehr, dass ich Abu Ahmad nicht besucht habe. Denn zum einen ist er inzwischen längst tot – und sein geliebtes Aleppo ist im Bürgerkrieg in Schutt und Asche gelegt worden.
Syrien unter Assad
Zur Zeit von Abu Ahmad herrschte in Syrien noch Hafiz al-Assad, ein nach allen Berichten brutaler Diktator, der 1970 die Macht übernommen hatte. Nach seinem Tod übernahm im Jahr 2000 dessen Sohn Bashar, der bis dahin als Augenarzt in London gelebt hatte. Als Angehöriger der religiösen Minderheit der Alawiten war er mit einer syrischen Sunnitin aus wohlhabendem Haus verheiratet. Die Sunniten bilden in Syrien mit 70 Prozent die religiöse Mehrheit. Unter Bashar al-Assads Präsidentschaft kam es 2001 zunächst zum „Damaszener Frühling“, in dem hunderte politische Gefangene freigelassen wurden und in „Salons“ politische und soziale Fragen diskutiert werden durften. Diese Zeit der intellektuellen Öffnung wurde im Herbst 2001 vom „Damaszener Winter“ abgelöst, als politische Repressionen Einzug hielten. Inwieweit die Anschläge vom 11. September und der darauf einsetzenden „Krieg gegen den Terror“ der USA die politische Kehrtwende al-Assads beeinflussten, würde hier zu weit führen. Syrien blieb jedenfalls ein säkularer Staat, dessen Regierung radikale Muslime als oppositionelle Feinde betrachtete. Die Mehrheit der sunnitischen Muslime im Land, die die Alawiten verketzerten, lehnten sich wiederum seit langem gegen die Alleinherrschaft al-Assads auf.
„Das Regime in Damaskus ist eine abscheuliche Diktatur. Aber es ist auch nicht schlimmer als andere“, urteilte Peter Scholl-Latour 2012 in einem Interview. Der renommierte Nahost-Experte warnte vor einem Bürgerkrieg, der zu der Zeit noch gärte. Und er warf dem Westen eine einseitige Sichtweise vor. „Ist Saudi-Arabien denn ein demokratisches Regime? Wer redet über die blutige Unterdrückung der Schiiten in Bahrain? Wer redet darüber, dass die Saudis die Freiheitsbewegung in Bahrain mit Panzern niedergewalzt haben? Kein Mensch!“ Die „Tugend-Attitüde“ gegenüber Syrien sei deshalb blanke Heuchelei. Und, warnte Scholl-Latour, das al-Assad-Regime sei „zumindest das letzte säkulare System in der islamischen Welt. Da sollten sich nicht nur die Syrer überlegen, ob sie nach einem etwaigen Umsturz etwas Besseres bekämen.“
„Befreites“ Syrien
Was die Syrer nach dem aktuellen Umsturz bekommen, ist ein loser Verbund verschiedener islamistischer Milizen unter Führung einer Gruppe, die sich Hajat Tahrir al-Scham, HTS (Komitee zur Befreiung der Levante), nennt. Die USA, Großbritannien und die Europäische Union haben den Al-Qaida-Ableger als Terrororganisation eingestuft. Den 42-jährigen Anführer Abu Muhammad al-Dscholani zählte der TV-Sender CNN zu den 10 Top-Terroristen weltweit. Nun nennen Medien den Terroristen einen „Rebellenführer“. Der Wissenschaftler Thomas Pierret von Frankreichs nationalem Forschungsinstitut CNRS nennt al-Dscholani einen „pragmatischen Radikalen„. Bei Interviews ist er eloquent und wirkt – statt mit islamischem Turban in adretter Militäruniform – für westliche Augen „zivilisiert“. Einige Medien vergleichen ihnen bereits mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. An alle ausländischen Regierungen hat al-Dscholani appelliert: Die weitere Entwicklung des Landes sei eine Angelegenheit unter Syrern – sie sollten sich heraushalten.
Der designierte US-Präsident Donald Trump will dies offenbar tun. Auf X postete er:
„In jedem Fall ist Syrien ein Schlamassel, aber es ist nicht unser Freund, und die Vereinigten Staaten sollten damit nichts zu tun haben. DIES IST NICHT UNSER KAMPF. LASST ES SICH AUSSPIELEN. MISCHEN SIE SICH NICHT EIN!“
Damit bekräftigt Trump indirekt, was Julian Assange im Jahr 2017 in einem Interview mit der Deutschen Welle enthüllte: Der größte Haushaltsposten und somit die oberste Priorität der CIA bestünde darin, Bashar al-Assad zu stürzen. Operation Timber Sycamore hieß ein milliardenschweres verdecktes CIA-Programm, mit dem die Obama-Regierung dieses Ziel erreichen wollte, indem sie islamistische Gruppen finanzierte, bewaffnete und mit Informationen versorgte. Im Jahr 2014 bombardierten die USA zudem Syrien, woraufhin Bashar al-Assad Russland um Hilfe bat. Donald Trump hingegen erklärte in seinem Wahlkampf 2016, er wolle mit dem Assad-Regime und Russland kooperieren, um den Islamischen Staat (IS) zu beseitigen. Dieser strategische Gegensatz hätte zwischen Trump und der CIA zu einem „ernsthaften Konflikt“ geführt, so Julian Assange. Die gegenwärtig noch amtierende Biden-Regierung hat dem neuen starken Mann in Syrien ebenfalls ihren guten Willen signalisiert und das 10 Millionen Dollar Kopfgeld auf al-Dscholani zurückgezogen. Zur Begründung sagte die Stellvertretende US-Staatssekretärin für Nahost-Fragen, Barbara A. Leaf, dass, wenn sie mit dem HTS-Führer zusammensitze und „über eine ganze Reihe von Interessen diskutiere – die Interessen der USA, die Interessen Syriens, vielleicht die Interessen der Region -, dann wäre ein solches Kopfgeld etwas inkohärent.“
Der Milizen-Führer
Abu Muhammad al-Dscholani, der Mann, der nach offizieller Lesart den „Schlamassel“ in Syrien beendet hat, wurde als Ahmed Hussein al-Scharaa 1982 in Saudi-Arabien geboren. 2021 sagte er dem US-Fernsehnetzwerk PBS, sein Kampfname beziehe sich auf die Wurzeln seiner Familie auf den Golanhöhen. Sein Großvater väterlicherseits hätte nach der israelischen Annexion des Gebiets im Jahr 1967 fliehen müssen. Er selbst wuchs nach der Rückkehr der Familie in Damaskus auf. Sein Vater soll ein säkularer Gegner des Assad-Regimes und viele Jahre in syrischen Gefängnissen gewesen sein. Wann al-Dscholani seinen Kampfnamen annahm, ist unbestimmt. In der TV-Dokumentation von PBS von 2021 gibt er an, dass er von der palästinensischen Zweiten Intifada maßgeblich beeinflusst worden wäre, die im September 2000 begann. Ein Jahr später: der 11. September. Kurz vor der US-amerikanischen Invasion schloss al-Dscholani sich 2003 al-Qaida im Irak an. 2006 wurde er festgenommen und verbrachte die nächsten fünf Jahre in verschiedenen US-Militärgefängnissen im Irak, wo er andere Dschihadisten traf. Wieder in seiner Heimat gründete al-Dscholani 2011 die al-Nusra-Front, als syrischen Arm von al-Qaida. Fünf Jahre später brach er offiziell mit al-Qaida und lieferte sich mit ihr und dem IS einen regelrechten Krieg um die Vorherrschaft in Syrien. Einige politische Beobachter meinen, dass er wegen des weltweit schlechten Images von al-Qaida seine al-Nusra-Front umbenennen wollte, und die 2017 gegründete HTS das Produkt davon sei. Seit dieser Zeit gibt al-Dscholani sich moderater. Sein erklärtes Ziel bleibt aber die Errichtung eines islamischen Staates sunnitischer Prägung.
Ein Zeitzeuge
Der US-amerikanische Journalist Theo Padnos, der 22 Monate Geisel des HTS war, berichtet in einem Video-Interview von systematischer Folter, die bei neuen Gefangenen „Welcome-Party“ genannt wurde. In seinem Kerker in Aleppo – Abu Ahmads geliebter Heimatstadt – konnte Padnos, der fließend Arabisch spricht, nach eigenen Angaben erlauschen, dass es beim Zerwürfnis zwischen al-Dscholani und al-Qaida nicht um strategische oder Glaubensdifferenzen ging, sondern um Geld. Nur eine Woche nach der Enthauptung des US-Journalisten James Foley durch den IS wurde Padnos im August 2014 freigelassen. Seine Erlebnisse beschreibt er in seinem Buch Blindfold: A Memoir of Capture, Torture, and Enlightenment (Augenbinde: Eine Erinnerung an Gefangenschaft, Folter und Erleuchtung, 2022). Im Interview sagt Padnos, dass er von etlichen Tätern wisse, die als angebliche Flüchtlinge seit Jahren in Paris oder München leben.
Auf Wikipedia steht eine Liste der vom IS ermordeten Gefangenen. Bis Mitte November 2014 sollen es allein in Syrien 1500 gewesen sein. Sie wurden erschossen, erhängt, enthauptet, ertränkt, gesteinigt oder bei lebendigem Leib verbrannt.
Religiöse Minderheiten und Frauen
Aktuell in Syrien hat Milizenführer al-Dscholani den religiösen Minderheiten zugesichert, dass sie keine Übergriffe zu befürchten hätten. Wer an seine Vorgeschichte und ähnlich lautende Ankündigungen der Mäßigung seitens der Taliban nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan 2021 denkt, wird an al-Dcholanis Beteuerungen zumindest zweifeln. Die Führer von sechs Dörfern der drusischen Minderheit auf den Golanhöhen glauben ihm offenbar kein Wort. Sie haben bei der dort einmarschierten israelischen Armee beantragt, in das israelische Staatsgebiet eingegliedert zu werden. In der westsyrischen Provinz Hama steckten an Weihnachten Unbekannte auf einem öffentlichen Platz einen Christbaum in Brand. Daraufhin gingen laut der Tageszeitung WELT Christen und Muslime gemeinsam zu Hunderten aus Protest auf die Straße.
Die zukünftige Stellung von Frauen im „befreiten“ Syrien ist ebenfalls ungewiss. Seine erste Rede nach dem Umsturz hielt Milizen-Führer al-Dscholani am 8. Dezember in Damaskus in der Umayyad-Moschee, zu der Frauen keinen Zutritt haben. Am 19. Dezember demonstrierten Hunderte Menschen auf dem Platz vor der Moschee und forderten einen säkularen Staat und eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen. Ein Sprecher der neuen Administration hatte zuvor erklärt, eine Vertretung von Frauen in Ministerien oder im Parlament sei „verfrüht“.
Deutschland und Europa
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, die zu ihrem Amtsantritt eine „feministische Außenpolitik“ ankündigte, scheint von Bedenken gegenüber den neuen Machthabern in Syrien verschont zu bleiben. Sie hat acht Millionen Euro Soforthilfe und die Aufnahme von Beziehungen zur HTS zugesagt. Auch viele Medien freuen sich über ein „freies“ Syrien. „Heute weine ich Tränen des Glücks. In der vergangenen Nacht hat die Welt die Wiedergeburt meines Heimatlandes Syrien miterlebt“, schreibt etwa in dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel ausgerechnet eine kurdische Autorin. Sie scheint zu vergessen, dass Kurden sowohl in Syrien als auch im Irak zu den Opfern des IS gehörten und auch im „befreiten“ Syrien zur Zielscheibe werden könnten.
Auf YouTube parodiert der Inhaber eines Satire-Accounts Milizen-Führer al-Dscholani, macht sich letztlich aber über die vermeintlich Gutgläubigen in Politik und Medien und der Gesellschaft lustig.
Deutschland hat seit Beginn des Bürgerkriegs rund eine Million Syrer aufgenommen. Nun werden, wie in anderen Ländern der EU, Rückführungen diskutiert. Da al-Assad weg ist, sollen die Flüchtlinge zurück und ihre Heimat wiederaufbauen. Aus der Türkei, das drei Millionen Syrer aufgenommen hatte, sind die Ersten bereits freiwillig ausgereist, nachdem sich dort die Stimmung gegen die Flüchtlinge verschlechtert hat. Dänemark will jedem erwachsenen Syrien-Rückkehrer 27.000 Euro zahlen. Angesichts der vielen Bilder jubelnder syrischer Migranten auf deutschen Straßen warnt wiederum das Innenministerium von Nancy Faeser vor einem „erhöhten Risiko“. Sie meint damit die Möglichkeit, dass die Erfolge der HTS-Offensive Islamisten in Deutschland dazu motivieren könnten, nach Syrien zu reisen, um sich den dortigen Dschihadisten anzuschließen. Diese Warnung erscheine durchaus kurios, kommentiert das Online-Medium Apollo News, wäre es für die innere Sicherheit nicht besser, wenn radikale Islamisten Deutschland verließen? Vielleicht wird es die „Wiedergeburt“ Syriens, über die sich die Autorin im Spiegel freute, tatsächlich geben – nur anders als von ihr erhofft. Mit dem Sturz des Assad-Regimes ist das Problem für die Europäer jedenfalls nicht gelöst. Experten erwarten Kämpfe zwischen rivalisierenden Islamisten-Milizen, die sich gegen den gemeinsamen Feind zusammentaten, der nun aber weg ist. Bald könnte es also neue Flüchtlingsströme aus Syrien geben.
Vergleichbare Szenarien
Die Ereignisse in Syrien erinnern an frühere Umstürze säkularer Regime im Nahen und Mittleren Osten sowie Nordafrika – und die Entwicklungen danach, als nicht Demokratie, sondern der Dschihad oder das Chaos Einzug hielt. Alle im Folgenden aufgezählten Länder haben große Reserven an Erdöl und/oder Erdgas.
IRAN: Die CIA und der britische Geheimdienst MI6 stürzten 1953 den demokratisch gewählten Regierungschef Mohammed Mossadegh, um eine Verstaatlichung der Ölschätze zu verhindern. Der von ihnen favorisierte Schah Reza Pahlevi errichtete ein autoritäres Regime und unterdrückte jegliche Opposition. 1979 kam es zum Aufstand und zur Machtübernahme von Ayatollah Khomeini in der fortan „Islamischen Republik“ Iran. Der Erzfeind Israels ist seit dem Ukrainekrieg zu einem engen Verbündeten Russlands geworden und damit in doppelter Hinsicht ein Dorn im Auge der aktuellen wie auch der designierten US-Administration. Teheran unterstützte das al-Assad-Regime, das als Brücke der schiitischen Mullahs zur ebenfalls schiitischen Hizbollah im Libanon diente.
IRAK: Bis zum Ersten Golfkrieg im Jahr 1990 war Saddam Hussein ein Verbündeter sowohl des Westens als auch der Sowjetunion. Das änderte sich mit dem Überfall des Iraks auf den Nachbarstaat Kuwait. Eine Kriegsallianz unter Führung der USA vertrieb die irakische Armee aus den besetzten Gebieten (Zweiter Golfkrieg 1991). Katalysator war die sogenannte Brutkasten-Lüge. Danach sollten irakische Soldaten in Kuwait Babys aus Brutkasten gerissen und sterben gelassen haben. Die Geschichte stellte sich als die Erfindung einer US-amerikanischen PR-Agentur heraus, die auch für die US-Regierung arbeitete. Als der Irak zehn Jahre später als einziger UNO-Mitgliedsstaat die Anschläge vom 11. September nicht verurteilte, geriet der irakische Diktator ins Visier des damaligen US-Präsidenten George W. Bush Junior. Im März 2003 marschierte eine „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA und Großbritanniens in den Irak ein und stürzte Saddam Hussein. Die Begründung der US-Regierung, dies sei ein notwendiger Präventivkrieg, um einen angeblich bevorstehenden Angriff des Iraks mit Massenvernichtungswaffen auf die USA zu verhindern, gilt inzwischen ebenfalls als frei erfunden und die Operation als völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Der britische Premierminister Tony Blair räumte 2015 ein, dass dieser Dritte Golfkrieg dem Islamischen Staat im Irak und in Syrien (ISIS) zum Aufstieg verhalf.
Ich erinnere mich: Am 15. Februar 2003 demonstrierten weltweit rund neun Millionen Menschen in der größten Friedensdemonstration der Geschichte gegen den drohenden Krieg im Irak. Ich war eine von 500.000 Protestierenden in Berlin. Im Irak war ich vor dem Ersten Golfkrieg gewesen. Von Kairo aus, wo ich damals lebte, war es ein Katzensprung. Ausnahmsweise reiste ich nicht allein, sondern in Begleitung eines Traveler aus Berlin. Wir kamen mitten im Ramadan in Bagdad an. Der Irak war damals ein säkularer Staat. Die Restaurants hatten ihre Fenster mit Zeitungspapier verklebt. Innen bekam man aber den ganzen Tag über etwas zu essen. Vor allem – und fast ausschließlich: Hühnchen. Ich kann mich nicht erinnern, in den drei Wochen unseres Aufenthalts ein einziges Mal frisches Gemüse oder Obst gegessen zu haben. Zu trinken gab es zu unserer großen Überraschung und literweise: Arak. Ein milchiger Anisschnaps. In Griechenland Ouzo genannt. Auch geraucht wurde ungeniert.
LIBYEN: Libyen kenne ich nur vom Durchreisen. Es herrschte noch Oberst Muammar al-Ghaddafi. Er hatte das Land 1977 zur Sozialistischen Arabischen Volksrepublik erklärt und zuvor alle Erdölgesellschaften verstaatlicht. Dies Erdöleinnahmen brachte der Bevölkerung fortan eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen des afrikanischen Kontinents ein. Die Sozialversicherung umfasste die kostenlose medizinische Versorgung sowie Witwen-, Waisen- und Altersrenten. Al-Gaddafi proklamierte einen Pan-Arabismus und Pan-Afrikanismus und kritisierte Israel und einen US-Imperialismus. Er ließ angeblich emigrierte Oppositionelle ermorden und unterstützte Terroranschlägen von arabischen Extremisten in Europa. Dies brachte ihn zunehmend in Konflikt mit der US-Regierung. Im Bürgerkrieg 2011 unterstützte eine internationale westliche Militärallianz unter Führung der USA die Aufständischen gegen al-Gaddafi und sorgte für seinen Sturz. Seitdem kämpfen rivalisierende Milizen, unter ihnen der IS um die Vorherrschaft im Land. Nach einem Bericht des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen (OHCHR) von 2023 begehen dabei alle Kriegsparteien schwere Menschenrechtsverletzungen. US-Präsident Barack Obama nannte in einem Interview mit Fox News im Jahr 2016 die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten es versäumt hätten, nach dem Sturz Gaddafis für stabile Verhältnisse und eine geordnete Regierung zu sorgen, den „größten Fehler“ seiner achtjährigen Amtszeit.
AFGHANISTAN: Zur Zeit des Kalten Krieges in den 1980er Jahren hatten die USA die islamistischen Mujaheddin in deren Kampf gegen die von der Sowjetunion gestützte Regierung in Kabul mit Stinger-Raketen ausgerüstet. Nach dem Abzug des sowjetischen Militärs kam es zu Kämpfen zwischen den verschiedenen Islam-Milizen, in denen die fundamentalistischen Taliban sich als Sieger behaupteten und in Folge einen islamischen Gottesstaat errichteten. Nach dem 11. September stürzten die Amerikaner im Rahmen ihres „Kriegs gegen den Terror“ die Taliban. Während der folgenden internationalen Stabilisierungsmission (ISAF) unter Nato-Führung konstituierte sich das Land als demokratische, islamische Republik, wurde aber autoritär regiert. Im Februar 2020 unterzeichneten die Vereinigten Staaten und die Taliban ein Friedensabkommen, ein Jahr später zogen die US- und Nato-Truppen ab – und die Taliban übernahmen wieder die Herrschaft. In dem von ihnen ausgerufenen Islamischen Emirat Afghanistan haben sie die Frauen seither systematisch entrechtet. Die USA wiederum hinterließen bei ihrem chaotisch wirkenden Abzug eine Unmenge von Waffen und Militärgerät. Ob bei den „Rebellen“ in Syrien davon demnächst etwas auftauchen wird?
Fortsetzung folgt.