Der Anschlag von Magdeburg wirft ein Schlaglicht auf Situation in Saudi-Arabien.
Ein Mann aus Saudi-Arabien verübt einen Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg. Auf seinem „X“-Account fällt mir ein Post auf über Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien. Auch dieser Aspekt gehört in meinen Augen zur Berichterstattung über das Attentat.
Vordergründig
Seit am Freitagabend Taleb Al Abdulmohsen mit einem gemieteten BMW in den Weihnachtsmarkt in Magdeburg raste und dabei fünf Menschen tötete, darunter ein neunjähriger Junge, und mehr als 200 verletzte, wird über seine Motive gerätselt. War er ein psychisch gestörter Islam-Kritiker oder, im Gegenteil, ein fanatischer Shia-Muslim – oder vielleicht ein saudischer Spion? Was immer seine Motive waren: Zur Tatzeit war Al Abdulmohsen 50 Jahre alt. 2006 kam er nach Deutschland. Er hat also mindestens 32 Jahre in Saudi-Arabien gelebt. Grund für mich, die Situation dort zu beleuchten.
Am Wesentlichstes wohl: Es gilt die Scharia. Und damit eine strikt-religiöse Kleiderordnung, vor allem für Frauen. Nach einem Gesetzentwurf sollen Gewaltverbrecher geschützt werden, die Frauen im Namen der vermeintlichen „Ehre“ Gewalt antun oder sie ermorden. Auch die Vergewaltigung in der Ehe ist noch immer keine Straftat. Trotzdem wurde das Königreich im März 2024 zum Vorsitz der UN-Kommission für Frauenrechte gewählt. Ohne Widerspruch aus der Gruppe „Westeuropa und andere Staaten“, zu der Österreich, Israel, Liechtenstein, die Niederlande, Portugal, Spanien, die Schweiz und die Türkei zählten. Im Universellen Menschenrechtsindex liegt Saudi-Arabien auf dem vorletzten Platz. International bekannt wurde der Fall des Bloggers Raif Badawi. Er kam nach zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben im März 2022 frei. Das Ausreiseverbot von zehn Jahren gilt weiterhin.
Der Tweet
Zurück nach Deutschland: Bevor in der Nacht zum Samstag der dem Magdeburger Attentäter zugeordnete „X“-Account – vorübergehend – gesperrt wurde, habe ich, wie vermutlich zig Tausende, den Account durchstöbert. Der Tweet, der mir besonders ins Auge stach, war ein Repost, also ein Text, den Taleb Al Abdulmohsen auf seinem Account nachgeteilt hatte. Es geht dabei um die UN-Veranstaltung Internet Governance Forum (Forum für Internetverwaltung), die vom 15. bis 19. Dezember 2024 in der saudischen Hauptstadt Riad stattfand – und bei der die systematische Missachtung von Menschenrechten in Saudi-Arabien zur Sprache kam. Übersetzt heißt es:
„Es war ein historischer, noch nie dagewesener Moment und voller Mut.
Zu sehen, wie die Heldin die Stimme des Volkes und der wahren Gerechtigkeit vertrat und mutig über Unterdrückung und Häftlinge sprach – inmitten eines diktatorischen Regimes, das versucht, jede Stimme, die die Menschenrechte verteidigt, auf brutale Weise zum Schweigen zu bringen.“
Ein Moment, der uns einen Teil unserer gestohlenen Freiheit zurückgegeben hat. Als hätten die Schreie der Unterdrückten jemanden gefunden, der sie mutig nach Riad trug und zum Klingen brachte.
Der Tweet stammt von Fawzia al-Otaibi, die in ihrem „X“-Profil schreibt: „Die saudische Regierung verfolgt mich als Menschenrechtsaktivistin, weil ich mich für die Rechte der Frauen einsetze. Sie haben meine Schwester Manahel zu 11 Jahren Gefängnis verurteilt.“ Menschenrechtsgruppen zufolge geschah dies wegen ihrer Kleiderwahl und ihrer Befürwortung von Frauenrechten online. Fawzia al-Otaibi flüchtete ins Ausland, ihr Name findet sich auf der diesjährigen Liste der „100 Women“ der BBC. Dort wird auch erwähnt, dass saudische Behörden al-Otaibis älterer Schwester Maryam ein Reiseverbot erteilt haben.
2034 soll die Fußballweltmeisterschaft in Saudi-Arabien stattfinden. Fawzia al-Otaibi appellierte daher an alle Fußballclubs mit saudischen Investoren, sich für die Freilassung ihrer Schwester einzusetzen.
Hintergründig
In ihrem Tweet zum UN-Forum in Riad preist al-Otaibi eine Frau, die dort lediglich virtuell anwesend war. Die Veranstaltung begann mit einer Schweigeminute für die inhaftierten Menschenrechtsaktivisten im Nahen Osten. Unter ihnen Assad sowie Mohammed al-Ghamdi und Nora al-Qahtani, die alle wegen ihrer Beiträge in sozialen Medien zu jahrzehntelangen Haftstrafen in saudischen Gefängnissen verurteilt worden sind. Ein leerer Stuhl neben der Moderatorin war nur mit einem Namenschild besetzt. Lina al-Hathloul, die eigentlich dort sitzen sollte, war per Video zugeschaltet. Die Leiterin der Kommunikationsabteilung der in London ansässigen saudisch-britischen Menschenrechtsorganisation ALQST war aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht nach Riad gereist. „Für heute muss ein leerer Stuhl meine Stimme repräsentieren – ein starkes Symbol für das Schweigen, dem so viele von uns ausgesetzt sind“, sagte sie. Ihre Schwester Loujain al-Hathloul setzt sich dafür ein, dass das berüchtigte Vormundschaftssystem in Saudi-Arabien abgeschafft wird, das Frauen für viele Entscheidungen die Erlaubnis von männlichen Verwandten abverlangt. Die Behörden verhafteten die Aktivistin im März 2018 in den Vereinigten Arabischen Emiraten und zwangen sie zurück nach Saudi-Arabien, wo sie mehr als zwei Jahre hinter Gittern verbrachte. Im Februar 2021 wurde sie auf Bewährung entlassen, darf Saudi-Arabien aber fünf Jahre lang nicht verlassen. Dass Lina al-Halthoul, eine freimütige Kritikerin von Kronprinz Mohammed bin Salman, dem Herrscher Saudi-Arabiens, bei dem UN-Forum zu einer Versammlung auf saudischem Boden sprach, wenn nur über Video, nannte auch die Moderatorin vor Ort „historisch“.
Das Forum
Die anschließende Podiumsdiskussion konzentrierte sich auf den UN-Vertrag zur Bekämpfung der Cyberkriminalität, den die Mitgliedsstaaten im August angenommen haben – trotz des Widerstands einer Allianz aus Menschenrechtsgruppen und großen Technologieunternehmen – die davor warnen, der Geltungsbereich sei viel zu weit gefasst und könnte auf ein globales Überwachungsabkommen hinauslaufen und von Regierungen zur Unterdrückung genutzt werden. Lina al-Hathloul nannte Saudi-Arabien ein „abschreckendes Beispiel“ dafür, wie das Abkommen die Unterdrückung Andersdenkender befördern könne. Sie verwies auf eine Überwachungsliste der saudischen Staatssicherheit mit der Bezeichnung „Watch Upon Return“, die nach Recherchen von ALQST die Konten von Saudis im Ausland überwacht, um sie bei ihrer Rückkehr ins Visier zu nehmen.
Nach Angaben der saudischen Behörden handelt es sich bei den von Menschenrechtsgruppen beanstandeten Verfolgungen um Straftaten im Zusammenhang mit Terrorismus und dem Versuch, die öffentliche Ordnung zu stören. Medienberichten zufolge hatte Saudi-Arabien ebenfalls Anklage gegen den mutmaßlichen Attentäter von Magdeburg wegen angeblichen Terrorismus und Beihilfe zum Schmuggel von Frauen aus den Golfstaaten nach Europa erhoben. Deutschland verweigerte aber seine Auslieferung, da in Saudi-Arabien nach wie vor die Todesstrafe vollzogen wird. Laut der Nachrichtenagentur Middle East Eye wurden im Jahr 2024 mehr als 300 Menschen hingerichtet, Amnesty International berichtet in seinem jährlichen Bericht zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe von mindestens 172 Hinrichtungen, die „höchste Zahl seit fast zehn Jahren”. Unter Berufung auf die offizielle saudische Presseagentur berichtete die in Berlin ansässige Europäisch-Saudische Organisation für Menschenrechte (ESOHR), dass 2024 auch mehr Frauen, nämlich sieben Frauen hingerichtet worden seien, drei davon wegen Drogenvergehen. Im Vergleich zu einer Hinrichtung im Jahr 2022. Auch seien bis 2019 Frauen nur wegen Mordes hingerichtet wurden. Die meisten Frauen, die während der Herrschaft von Kronprinz Mohammed hingerichtet wurden, seien Wanderarbeiterinnen aus Afrika und Asien gewesen.
Im Vorfeld des UN-Forums in Riad hatten Menschenrechtsgruppen die saudische Regierung aufgefordert, alle freizulassen, die wegen ihrer Online-Äußerungen inhaftiert sind (siehe auch Legende unter dem Titelfoto). Die Veranstaltung selbst wurde nach Angaben der Veranstalter durch Zensureingriffe überschattet. Video und Transkript der Veranstaltung seien online gelöscht worden. Später sei ein neues Video hochgeladen worden. Dana Ahmed, Nahost-Rechercheurin von Amnesty International, postete auf X, dass Flugblätter zu den Fällen von Manahel al-Otaibi sowie von Neth Nahara, einer angolanischen Sängerin, die ebenfalls wegen Posts in sozialen Medien inhaftiert wurde, am Stand der Organisation beschlagnahmt worden seien.
Eine Dissidentin in Berlin
Ich selbst habe im Jahr 2018 eine saudische Dissidentin in Berlin interviewt. Da ich nicht weiß, ob sie ihren Namen noch gedruckt sehen möchte, nenne ich sie hier Fatima und erzähle kurz ihre Geschichte:
Ihre Eltern sind gemäßigte Muslime, die der Mittelschicht angehören und mit ihrer Tochter Urlaub in Italien, Spanien oder der Schweiz machen. Fatima ist 20, als sie mit ein paar Freunden eine Party feiert – und die Religionspolizei sie dafür verhaftet. Sie wird zu vier Jahren Haft und 2.000 Hieben verurteilt. Anfangs glaubt sie noch, es sei ihre gerechte Strafe von Allah, weil sie nicht gebetet oder zu Ramadan gefastet hatte. Um eine Haftverkürzung zu erhalten, beschließt sie, den Koran auswendig lernen. „Während ich versuchte, den Koran auswendig zu lernen, habe ich viel für mich entdeckt – bezüglich der Rechte von Frauen und bezüglich der wissenschaftlichen Theorien. Ich habe angefangen, den Islam mit anderen Augen zu sehen“, berichtet sie.
Nach elf Monaten kann Fatima den Koran auswendig rezitieren und wird als „Braut des Koran“ vorzeitig entlassen. Doch ihre Erlebnisse im Gefängnis verfolgen sie: Viele ihrer Mitgefangenen sind nicht kriminell, sondern Frauen, die vor häuslicher Gewalt oder sexuellem Missbrauch geflohen sind. Wer am Ende der Haftzeit nicht von einem männlichen Verwandten abgeholt wird, muss weiter im Gefängnis bleiben. „Ich habe im Gefängnis vieles gesehen – und Gott sah ungerecht dabei aus. Ich habe mich gefragt, ist das richtig, was Gott macht? Nach meiner Entlassung tauchten in meinem Kopf immer wieder Fragen auf – über Gerechtigkeit, Menschlichkeit, die Gleichheit zwischen Frauen und Männern.“
Fatima versucht, ein normales Leben zu führen, studiert, gründet ein Unternehmen. Doch schließlich hält sie es nicht aus und outet sich auf YouTube als Ungläubige. Eine ägyptische Zeitung veröffentlicht ihr Bekenntnis – ohne ihr Wissen. Zu der Zeit ist Fatima gerade in Istanbul. Aus Angst vor einer erneuten Verhaftung bleibt sie in der Türkei. Über Schweden kommt sie nach Deutschland, wo sie 2015 Asyl erhält. Zum Zeitpunkt unseres Interviews ist sie 32 und hat ein Buch über ihre Haft geschrieben. „Ich bin Ex-Muslimin. Aber ich bin keine Atheistin“, sagt sie. „Was ich heute glaube, ist ein Kern von sämtlichen Religionen und alten Philosophien. Ich betrachte mich als Sufi.“ Gemeinsam mit anderen Aktivistinnen setzt sie sich für Frauenrechte in Saudi-Arabien ein. Mit ihren Eltern, die sie im Gefängnis fast jede Woche besuchten, steht sie per Telefon und Chat in engem Kontakt.
Leider weiß ich nicht, wie es Fatima inzwischen geht. Auf meine E-Mail hat sie (noch) nicht geantwortet.