In Alabama hat ein Ehepaar seine eigene Kirche gegründet.
Was tun, wenn Sie mit den Kirchen in ihrer Umgebung nicht ganz zufrieden sind? Sie gründen einfach Ihre eigene! In Deutschland undenkbar. In den USA kein Problem. Dolores und John Eads taten genau das – und bieten nun in einem Slumviertel Sozialarbeit für Kinder und Erwachsene an.
Prichard, ein Vorort von Mobile, im Süden des US-Staates Alabama. Hier, im „Tiefer Süden“, haben John und Dolores Eads eine kleine Kirchengemeinde gegründet. Und haben sie, weil der Ortsteil „Alabama Village“ heißt, The Light of the Village getauft. Eigentlich ist Jesus Christus „Das Licht des Dorfes“. So besagt es ein Schild, das an einem der weißen bungalowförmigen Häuser hängt, vor denen ich stehe. Ein rotes Holzkreuz ist daneben in die Erde gerammt. Auch das Geländer zur Eingangstür und die Holzbalken um die Fenster sind rot gestrichen.
„Wir sind eine konfessionslose christliche Kirche, unabhängig von großen Kirchen wie den Baptisten“, erklärt John Eads. Am nächsten stünden sie wohl den Evangelikalen, antwortet er, als ich nachfrage. Er und seine Frau begriffen sich durchaus als Missionare. Dieses Wort habe jedoch einen schlechten Beigeschmack. „Wir lehren zwar über die Bibel und Jesus Christus. Aber wir sagen nicht: Bevor ihr etwas essen dürft, müsst ihr euch das erst anhören.“
Eads, 58, kurze rotblonde Haare, metallgerahmte Brille, nimmt mich mit, als er im weißen Kleinbus ein Dutzend Erst- und Zweitklässler von der Schule abholt. Auf der Fahrt warnt er mich, das Viertel sei der Bodensatz des sozialen Bodensatzes in der Stadt. Ich sehe verfallene Holzhäuser und noch bewohnte, vor denen sich Müll türmt. An einer Ecke stehen junge Männer und handeln einen Drogendeal aus. Eads begrüßt sie lautstark. Und sie grüßen zurück. Noch vor fünf Jahren hätte er nicht so einfach hier durch das Viertel fahren können, sagt er. Aber inzwischen kennen sie ihn alle – und das Projekt. Dennoch würde er auch heute noch nicht zu Fuß durch das Viertel laufen. Mit dem Auto sei das schon riskant genug. Und das nicht etwa nur nachts. „Fast alle, von denen wir wissen, hat es tagsüber getroffen. Keine Ahnung, warum“, sagt Eads. Es brauche wenig, etwa einen Streit, dann werde geschossen. Und wenn man Pech hat, war man gar nicht das Ziel, bekommt aber eine tödliche Kugel in den Kopf. Oder ins Herz. Wie die Frau des Pastors der kleinen Kirche, an der wir gerade vorbeifahren: Sie stand dort hinter der Tür, als ein Irrläufer das Holz der Tür durchschlug.
Wir halten vor der Schule. Eads öffnet die Schiebetür – und dann wird es im Wageninnern laut, denn die Kids haben viel zu erzählen. Ich sitze auf einer Rückbank neben einem Mädchen, das sich über die Cartoon-Figuren Tom und Jerry einen Ast lacht, die sie sich mit meinem Smartphone auf YouTube heruntergeladen hat. Über die Abenteuer des Katers und der Maus hatte ich als Kind auch gelacht. Erfunden wurden die Figuren im Jahr 1940. Vor mehr als 80 Jahren also. Und hier ist dieses Mädchen aus einem Elendsviertel in Alabama und hat ihren Spaß an den beiden! Im Gemeindezentrum angekommen, spielen die Pimpfe auf der Wiese Verstecken, danach mit viel Geschrei auf der großen gelben Rutschbahn. Einige ältere Jungen kicken derweil. Alle tragen Schuluniform: schwarze Hose und rotes Polohemd. Um eine Mitarbeiterin hat sich eine Traube von Kindern geschart, denn sie trägt einen jungen Welpen im Arm, der ihr am Mittag zugelaufen war. Alle wollen den Hund streicheln und auch in den Arm nehmen.
Doch erst einmal gibt Dolores Eads für die Kleinsten eine Bibelstunde. Alle sitzen auf dem Boden im Schneidersitz, Eads selbst steht mal, mal kniet sie. Die sanft wirkende Frau kann sehr bestimmt werden, wenn sie es für angebracht hält. Wenn die Kinder unruhig werden, ermahnt sie sie, still zu sitzen. So will sie dazu beitragen, dass dies den Kids auch in der Schule leichter fällt, um sich besser aufs Lernen zu konzentrieren. In den Händen hält Dolores Eads eine Bibel. Dieses Mal geht es um den Unterschied zwischen „gut“ und „ausgezeichnet“. Dazu liest sie aus der Bibel, wie Jesus einen Kranken heilt. Ein Junge schlummert dabei selig. Als ich Dolores Eads später darauf anspreche, lacht sie. Klar, sie habe das auch gesehen. Aber: „Diese Stunde hier könnte für den Jungen und die anderen Kinder der einzige ruhige Moment am Tag sein.“
Dem Ehepaar ist klar, dass es keine Wunder vollbringen kann. Nach den drei Stunden im „Licht des Dorfes“ kehren die Kinder zurück in ihre Familien – und zu Gewalt, Geldnot und Drogenmissbrauch. Dolores zeigt mir im Aufenthaltsraum die sogenannte Trauerwand mit den Fotos der Toten. Cory etwa, Spitzname „Big Man“, wurde gleich um die Ecke in seinem Auto erschossen. Nun hängt sein Foto hier mit 66 anderen. Strengere Waffenkontrollen allein könnten nichts gegen die Gewalt ausrichten, ist John Eads überzeugt. Auch die Hautfarbe spiele keine Rolle, ebenso wenig wie die Armut, sagt er. „Es ist die Kultur im Viertel. Viele Erwachsene ziehen ihre Kinder einfach so auf.“ Zudem würden viele von Pistolen zu Gewehren aufrüsten, und mehr und mehr Frauen mischten mit. „Manchmal schießen sie aus ihren Autos aufeinander – mit ihren Babys auf dem Rücksitz.“
Einer, der es schaffen könnte, ist Ulysses Lang. Am Vortag ist er 21 Jahre alt geworden. Demnächst wird er Vater. Er spielt Tuba und Schlagzeug und will Musiklehrer werden. Bis dahin hilft er im „Licht des Dorfes“ mit. Während viele der jungen Leute im Viertel für sich den einzigen Weg aus der Misere in Gewalt und Drogen sehen. Hier hingegen würden sie den Kindern zeigen, dass es noch einen anderen Ausweg gebe. „Du kannst Gott folgen und glücklich sein.“
Als das Ehepaar Eads vor zwanzig Jahren ein heruntergekommenes Crack-Haus umbaute, hätte niemand in dem Schwarzen-Viertel darauf gewettet, dass die beiden Weißen bleiben würden. Sie hätten sich erst einmal den Respekt der Leute verdienen müssen – und deren Vertrauen, sagt John Eads. „Inzwischen wissen sie, wie wir die Leute und die Kinder behandeln. Ich glaube, deshalb sind wir noch hier. Vier andere Kirchen sind in der Zeit niedergebrannt worden.“ Zu ihrer Sicherheit tragen die Eads und ihr Team dennoch ständig Walkie-Talkies bei sich.
„Sie sind mit offenem Herzen gekommen und haben sich gekümmert. Sie teilen ihre Liebe und ihr Mitgefühl.“ So beschreibt es Betty Catlin. Die rundliche Frau mit Goldkronen und honigfarbenen Dreadlocks ist seit den Anfängen des Projekts dabei. Gerade bereitet sie in der Küche die Pausensnacks für die Kinder vor. Viele der Leute, denen die Eads geholfen hätten, und die danach aus dem Viertel weggezogen seien, kämen immer wieder zur Kirchengemeinde, um ihre Wertschätzung zu zeigen.
Dolores Eads nickt. Vor allem die Eltern, die im Licht des Dorfes herangewachsen seien und immer noch zum Gottesdienst oder zur „Ladies‘ Night“ kämen, wollten für ihre Kinder ein besseres Leben. Betty Catlin kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. In die Gemeinde kämen einige Kinder, deren eines Elternteil ein Elternteil der anderen Familie getötet hat – und dennoch verbringen beide Kinder Zeit hier zusammen. „Wir versuchen, sie davon abzubringen, dass sie sich gegenseitig hassen. Wenn wir den Kreislauf nicht durchbrechen, wird er sich wiederholen.“
Empfehlung an alle Englischkundigen: Lesen Sie bitte UNBEDINGT den vertiefenden Essay von Malcolm Garcia. Der preisgekrönte Journalist und Schriftsteller arbeitete zwei Wochen lang ehrenamtlich im Licht des Dorfes mit und beschreibt das Erlebte in: Alabama Village.