Vor 20 Jahren wurde Ghofrane Haddaoui in Marseille grausam ermordet.
Steinigung: eine archaische Strafe nur im Iran und in Afghanistan? Es ist das Jahr 2004: Eine 23-jährige Frau wird mitten in Europa, in Frankreich mit Steinen geschlagen, beworfen, so dass sie sie qualvoll stirbt. Wie konnte das geschehen? Eine Spurensuche.
Wann genau Ghofrane Haddaoui gestorben ist, weiß niemand zu sagen. Es muss in der Nacht vom 17. oder 18. Oktober 2004 geschehen sein. Und es war ein einsamer und langsamer und qualvoller Tod. Bei der Autopsie wurden 31 Steinschläge auf Ghofranes Schädel festgestellt. Nach Angaben des Gerichtsmediziners hat ihr Todeskampf zwischen 18 und 24 Stunden gedauert. Wie viel Zeit verging danach noch, bis man sie fand, ist unbekannt. Feststeht: Am 19. Oktober 2004 wurde ihre Leiche auf einem unbebauten Grundstück in der Nähe des Einkaufszentrums Grand Littoral in Marseille entdeckt. Die Steinschläge hatten ihr Gesicht völlig entstellt, ihre Hände zerquetscht. Es muss ein grauenvoller Anblick gewesen sein.
2.000 Menschen gingen daraufhin einen Monat später am Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen auf die Straße, schweigend im Zentrum von Marseille. Zu dem Schweigemarsch hatten die Familie Ghofranes und die Frauenorganisation „Ni putes ni soumises“ aufgerufen (Weder Huren noch Unterworfene). Der Name bezieht sich darauf, dass in den Banlieues, den Vorstädten der französischen Großstädte, in denen viele muslimische Einwanderer leben, junge Frauen von ihrer sozialen Umgebung, ihrer Familie und insbesondere von jungen Männern vor die Wahl gestellt werden: Entweder beugen sie sich der traditionellen Geschlechterrolle, was bedeutet, sich „sittsam“ zu verhalten und Kopftuch zu tragen – oder sie gelten als „Freiwild“.
Gesetz der Vorstädte
Was den rebellierenden Mädchen im schlimmsten Fall droht, ist die sogenannte „tournante“ – die Gruppenvergewaltigung. Samira Bellil, Tochter algerischer Einwanderer, war die erste, die dieses Phänomen in ihrem Buch Durch die Hölle der Gewalt beschrieben hat. Sie war selbst das Opfer von drei Gruppenvergewaltigungen, bevor sie nach einer psychotherapeutischen Behandlung den Mut fand, ihre Geschichte zu erzählen. Sie schrieb unter ihrem echten Namen, und der Buchdeckel zeigt ihr Gesicht. Ihre Eltern, die ihre Anwesenheit danach als Schande empfanden, verbannten sie aus ihrem Haus. Bellil arbeitete danach als Sozialarbeiterin und war auch Schirmherrin von „Ni putes ni soumises“, bis sie am 4. September 2004, also ebenfalls vor zwanzig Jahren, an Magenkrebs starb. Sie war 31 Jahre alt.
Gründerin von „Ni putes ni soumises“ ist die gebürtige Algerierin und Frauenrechtlerin Fadela Amara. Ich habe sie damals in Paris interviewt und ihr Buch mit dem gleichnamigen Titel Weder Huren noch Unterworfene unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung besprochen. Die englischsprachige Sight & Sound übernahm den Artikel auf Englisch; dieser Text findet sich, im Gegensatz zum deutschen Original, noch im Netz hier. Katalysator für die Gründung war der Mord an einer anderen jungen Frankoalgerierin am 4. Oktober 2002. An diesem Tag wurde die 17-jährige Sohanne Benziane, Tochter kabylischer Einwanderer, im Keller eines Vorstadtviertels bei Paris mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leib verbrannt.
Ghofrane Haddaoui, die zwei Jahre später ermordet wurde, war laut Medienquellen 1980 oder 1981 in Tunis geboren, sie absolvierte ein Praktikum als Verkäuferin in einer Boutique. Und wollte bald heiraten. Letztendlich ist es Ghofranes Mutter, Monia Haddaoui, zu verdanken, dass die Täter überführt wurden. In ihrem Buch Ils ont lapidé Ghofrane (Sie haben Ghofrane gesteinigt) schreibt sie: „Wie war es möglich, dass ein Mädchen in Frankreich, dem Land der Menschenrechte, gesteinigt wurde? Trotz des Traumas, trotz des Schmerzes, verwandelte sich meine Trauer ab dem Besuch im Leichenschauhaus in einen Kampf. Jetzt war nicht die Zeit zum Weinen, jetzt ging es darum, zu verstehen. Dazu musste ich auf der Straße nach Informationen suchen, in unmittelbarer Nähe der Peiniger meiner Tochter. Dann habe ich mich vorbereitet: Ich habe mich angezogen, geschminkt und bin in den Kampf gezogen.“
Die ehemalige Barbesitzerin und geschiedene Mutter von sechs Kindern ermittelte mit Hilfe von Verwandten selbst unter den Jugendlichen in den umliegenden Vierteln, um die Mörder ihrer Tochter zu finden. Ihre Strategie zahlte sich aus: Zwei Mordverdächtige wurden festgenommen. Der Haupttäter, ein ebenfalls aus Tunesien stammender 17-Jähriger, gab an, dass er sich von der sechs Jahre älteren Ghofrane „zurückgewiesen“ gefühlt habe. „Rasend vor Wut“ und unter dem Einfluss von Alkohol und Cannabis habe er deshalb „etwa zehn Minuten lang“ große Steine auf ihren Kopf geworfen bzw. geschlagen.
Damals
Was die französische Zeitung Liberation im Vorfeld des Prozesses über die beiden Angeklagten berichtete, liest sich im Rückblick wie viele Täterbiografien, die wir in Europe in den zwanzig Jahren, die seither vergangen sind, so oder so ähnlich nicht nur in Frankreich lesen oder hören konnten:
- T., der in Marseille als Sohn eines als gewalttätig beschriebenen Vaters und einer behinderten Mutter geboren wurde, war im Oktober 2004 wegen Disziplinlosigkeit von der Schule verwiesen worden.
- Ihm wurden schwere Diebstähle vorgeworfen, aber sein Strafregister wies keine Verurteilungen auf. Nach dem Mord hatte er seine SMS-Karte in das Handy von Ghofrane Haddaoui eingelegt, um zu telefonieren. Als die Polizei es sicher stellte, kam sie ihm leicht auf die Spur.
T. gab an, dass Ghofrane, die er seit sechs Monaten gekannt und mit der er bereits geflirtet hätte, ihm an diesem Abend vom Zentrum Marseilles bis zu seiner Siedlung Plan-d’Aou gefolgt sei, es sich aber auf dem Weg anders überlegt und sich ihm verweigert hätte. Anschließend prahlte er mit der Tat, und die Gerüchte verbreiteten sich in seiner Siedlung.
Ghofranes Mutter war jedoch überzeugt, dass ihre Tochter nicht von einem Einzeltäter, sondern in einer Gruppe ermordet worden war. Mit Hilfe ihrer Verwandten fand sie heraus, dass T. am Abend der Tat von zwei weiteren Minderjährigen begleitet worden war. Einer von ihnen war der damals 16-jährige F.. Die Polizei fand auch ihn ohne Probleme: Er saß wegen eines bewaffneten Raubüberfalls, den er nach dem Mord begangen hatte, im Gefängnis.
F., der in der sechsten Klasse die Schule abgebrochen hatte, war bereits zehnmal verurteilt, unter anderem zu Gefängnisstrafen wegen schweren Diebstahls und schwerer Gewalt, insgesamt waren der Jugendgerichtsbarkeit 28 Straftaten bekannt. Unehelich geboren, wurde er von einem Legionärsstiefvater aufgezogen, in einem Heim und später in einer Pflegefamilie untergebracht und seit seinem achten Lebensjahr von einem Jugendrichter betreut. F. bestritt zunächst jegliche Tatbeteiligung, gab dann aber zu, bei dem Mord anwesend gewesen zu sein – ohne sich jedoch daran beteiligt zu haben.
Ein Dritter, A., der damals 17 Jahre alt und der Polizei wegen gemeinschaftlicher Diebstähle bekannt war, soll im Nachhinein über den Mord informiert worden sein – hatte ihn aber nicht angezeigt. Der Polizei gegenüber gab er an, T. und F. hätten Ghofrane erst verprügelt, bevor T. sie mit großen Steinen schlug. A. musste sich wegen Nichtanzeige eines Verbrechens vor Gericht verantworten, befand sich zu diesem Zeitpunkt aber bereits wieder auf freiem Fuß.
Die beiden anderen, T. und F., wurden vom Jugendschwurgericht des Departements Bouches-du-Rhône im April 2007 zu je 23 Jahren Zuchthaus verurteilt. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit war die Höchststrafe von dreißig Jahren gefordert worden, für den Haupttäter zusätzlich Sicherheitsverwahrung.
Und heute?
Wenn sie die gesamte Strafe absitzen müssen, kommen die beiden im Jahr 2030 frei. Vielleicht sind sie aber vorzeitig entlassen worden und bereits wieder auf freiem Fuß? Haben sie in der Haft jemals Reue gezeigt? Vielleicht sogar bei Ghofranes Mutter um Verzeihung gebeten? Ich hätte die Antworten auf diese Fragen gern gewusst und sie Ihnen hier gegeben. Leider habe ich auf meine diesbezüglichen Anfragen an Frauenaktivistinnen in Deutschland und Frankreich keine Rückmeldung erhalten. Auch im Netz habe ich dazu nichts entdeckt. Wer dies hier liest und mehr weiß, etwas gehört oder gelesen hat: Bitte lassen Sie es mich wissen. Ich würde es hier ergänzen, verlinken.
Die Emma, einige der wenigen Medien, die damals über die Steinigung berichteten, schrieb: „Jetzt wurde die Franco-Tunesierin im Leichentuch in ihre Heimat transportiert – doch ihre Onkel weigerten sich, die Ermordete traditionell zu beerdigen. Sie wollten keinen „dreckigen“ Körper bestatten, hieß es. Sie hatten von Journalisten gehört, Ghofrane sei im Viertel ein „bekanntes Mädchen“ gewesen. Nachts um halb elf verscharrten Mutter und Geschwister allein den Körper in tunesischer Erde.“ Im Englischen heißt es: R. I. P.. Rest in Peace. Ruhe in Frieden.