Vor 85 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Und mit ihm der „Sitzkrieg“ im Elsass.
1. September 1939: Kriegsbeginn – im Osten. Noch am selben Tag wurde Straßburg evakuiert. 400.000 Menschen mussten Elsass und Lothringen verlassen. Zurück blieben Geisterstädte, Katzen und Hunde.
Mobilmachung
Freitag, 1. September 1939. Paul Martin, Direktor des Historischen Museums in Straßburg, schreibt in sein Kriegstagebuch: “Mobilmachung. 16 Uhr: Evakuierung der Bevölkerung in Richtung Dordogne.” Noch bevor Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklärte, mussten insgesamt 400.000 Menschen im Elsass und in Lothringen ihre Heimat verlassen.
“Von einem Tag auf den anderen haben wir fort gemusst”, erinnert sich Lina Grieswald, 81. Erst vor kurzem war sie mit ihrem neun Monate alten Sohn zu ihren Eltern gezogen, weil ihr Mann zum Militär eingezogen worden worden. Am frühen Morgen klopften die Soldaten an die Tür und sagten, dass sie gehen müssten. “Mein Bruder und ich waren ja noch jung damals und haben uns nicht so einen Kopf gemacht”, sagt Lina, “aber für unsere Eltern war es schon schlimm.“ Die Mutter briet noch eine Ente für unterwegs. Dabei weinte sie. Der Kinderwagen und ein Koffer für die ganze Familie war alles, was sie schließlich mitnahmen. So weit das Benzin reichte, fuhren sie mit dem eigenen Auto, dann weiter wie die anderen Flüchtlinge mit der Eisenbahn, auf Holzbänken im 4. Klasse-Abteil. Die letzte Strecke im Viehwaggon.
Zwei Tage nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen, am 3. September 1939, erklärten Großbritannien und Frankreich den Deutschland den Krieg. Während die Welt mit angehaltenem Atem die politische Entwicklung verfolgte, wurden in Frankreich alle Ortschaften innerhalb eines fünf Kilometer breiten Grenzstreifens entlang des Rheins und der Maginot-Linie evakuiert. Diese Zwangsmaßnahme verwandelte Städte und Dörfer in eine Geisterlandschaft. Neun Monate lang blieben sie verwaist. Ein wahrer Exodus. Dennoch geschah er nahezu unbemerkt, da die Augen der Welt sich gen Osten richteten, wo die deutsche Wehrmacht in einem Blitzkrieg wütete.
48 Stunden blieben den Einwohnern, um ihre Wohnungen, Häuser und Höfe zu verlassen. Die Verordnung der Behörden klebte an allen Häuserwänden. “La drôle du guerre” begann, der “seltsamen Krieg”, wie die Franzosen ihn nennen. Im Deutschen fand man eine nicht weniger treffende Bezeichnung: Sitzkrieg. Der Krieg war erklärt, doch die Waffen ruhten. In der 3. Französischen Republik, die zwar mit Polen verbündet war, aber mit dem Deutschen Reich eine lange Grenze teilte, warteten die Soldaten in den Kasernen auf einen Feind, der nicht kam.
Vorahnungen
Viele der laut einer Volkszählung 190.300 Einwohner Straßburgs hatten die Stadt bereits vor der Evakuierung verlassen. Die politischen Entwicklungen sprachen ihre eigene Sprache. Krieg lag in der Luft. Im Jahr zuvor, nach dem Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes an das Deutsche Reich, waren in Frankreich 600.000 Reservisten einberufen worden. Zwar nur für eine Woche, aber seitdem häuften sich in den Zeitungen die Angebote für Häuser in den Vogesen und die Anleitungen zum Gebrauch von Gasmasken. Die wirtschaftliche Lage im Elsass verschlechterte sich zusehends, weil die Investitionen zurückgingen. Der letzte Anstoß fortzuziehen war für viele, als die deutsche Armee im März 1939 die tschechoslowakischen Provinzen Böhmen und Mähren besetzte.
Die Evakuierung kam für viele Menschen dennoch überraschend, denn die Behörden hielten ihre diesbezüglichen Pläne geheim. Seit 1936, als die deutsche Armee in das entmilitarisiete Rheinland einmarschierte, war an den Plänen gearbeitet worden. Dieser Gewaltakt rief die Erinnerungen wach an das Jahr 1870, als das deutsche Kaiserreich sich das Elsass einverleibt hatte. So etwas sollte sich nicht wiederholen. Im Jahr 1939 brachte man daher sowohl die Zivilbevölkerung als auch die Kunstschätze vor einem Angriff der Wehrmacht in Sicherheit.
Die Geheimniskrämerei um die Evakuierung nährte viele Spekulationen. Elsässische Autonomisten argwöhnten später, es sei gar beabsichtigt gewesen, die gesamte Bevölkerung des Elsass – auf Dauer – umzusiedeln. Wurde die Evakuierung vielleicht auch geplant, weil die Behörden befürchteten, die Elsässer, die nach der Eroberung von 1870 bis 1918 zu Deutschland gehört hatten, würden mit dem Feind kollaborieren? Misstrauen schlug im Herbst 1939 anfänglich auch den Flüchtlingen von ihren „Gastgebern“ entgegen. Viele Einheimische, Franzosen, hielten vor allem die älteren Elsässer, die kein Wort Französisch sprachen, für “boches” – ein Schimpfwort für Deutsche.
Auf dem Weg
Vater Grieswald hing an seinem Bauernhof und den Tieren. Zwei Pferde, drei Kühe, ein Dutzend Schweine und 500 Hühner und Enten besaß die Familie. Freiwillig hätte er Straßburg nie verlassen. “Wir bleiben hier”, sagte er. Doch die Räumungsmaßnahme war obligatorisch. Jedermann musste sich ihr unterwerfen. In einer Bekanntmachung hieß es: “Ab 3. September 1939, 18 Uhr, werden alle Personen, die in den Straßen angetroffen werden, ohne im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zu sein, von Amts wegen und sofort evakuiert.“ Also sagte der Vater sich selbst: “Ich komme gleich zurück”. Er nahm nicht einmal ein Hemd zum Wechseln mit. „Deshalb musste meine Mutter ihm unterwegs jeden Abend das Hemd waschen, damit er es am nächsten Morgen wieder anziehen konnte”, erzählt Lina. Zurück durfte der Vater nicht mehr.
Die ersten Züge mit Flüchtlingen in Richtung Vogesen verließen Straßburg am 2. September um 6 Uhr morgens. Da die Männer ihre Einberufungsbefehle erhalten hatten, waren fast nur noch Frauen, Kinder und Alte in der Stadt. Sie wussten nicht, wielange sie fortbleiben würden. Die Nacht über hatten sie fieberhaft gepackt. 30 Kilogramm Handgepäck waren erlaubt pro Person. Was auswählen? In den Empfehlungen der Behörden stand: Lebensmittel für vier Tage, Büchsenmilch für die Kinder, ein Paar wetterfeste Schuhe.
Am selben Mittag fahren die Grieswalds los. Auf den Straßen wimmelt es vor Menschen. Durch das Autofenster sieht Lina sie vorüber eilen – zu Fuß, mit Handkarren oder, wer Glück hat, auf dem Pferdewagen. Vollbeladen. Auf Fahrrädern türmen sich Bündel mit Kleidung und Singer-Nähmaschinen. Ein Priester trägt eine Marien-Statue im Arm. Wie ein Zug Ameisen strömen die Flüchtenden auf die Landstraßen hinaus. Auch schwangere Frauen sind darunter, von denen viele ihre Kinder im Straßengraben gebären. Die Grieswalds fahren den ganzen Tag und immer überholen sie Leute, so viele waren unterwegs. Am Abend erreicht die Familie das erste Sammelzentrum, Bruyères, 120 Kilometer entfernt. Dort verteilt das Rote Kreuz warme Suppe und Milch für die Kinder.
Das „leere“ Straßburg
In Straßburg regiert jetzt das Militär. Der Bürgermeister harrt noch eine Weile in der Stadt aus wie der Kapitän auf einem verlassenen Schiff. Schließlich pendelt er zwischen hier und Périgueux, wohin die Stadtverwaltung Straßburgs evakuiert worden ist. Auch andere Verwaltungseinheiten, die Universität, die beiden Landeskirchen, die „Elsässischen Neuesten Nachrichten“ sind in andere Städte verlegt und auf diese Weise arbeitsfähig. Zurück in der „leeren“ Stadt bleiben noch die Soldaten in den nun brechend vollen Kasernen sowie dreihundert städtische Bedienstete und Polizisten, die die Versorgung mit Strom und Gas gewährleisten und die Gebäude bewachen. Durch diese Vorsichtsmaßnahmen wird Straßburg davor verschont, wie die verlassenen Orte auf dem Land ausgeplündert zu werden.
„Wir dachten damals alle, der Krieg würde nicht lange dauern“, sagt Francis Rohmer, im Rückblick milde lächelnd. Der 92-Jährige war damals Assistenzarzt in der neurologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses von Straßburg. Die älteren Ärzte waren bereits beim Militär und die Patienten, Ärztinnen und Krankenschwestern in das Hotel nach Hohwald, einem Städtchen im südlichen Elsass, verlegt. „Am 1. September war das Krankenhaus schon leer“. In dem großen Gebäude war es ganz ruhig, als Francis Rohmer die Bücher und seine Papiere einpackte, denn am nächsten Tag musste er zum Militär. Zum Abschied „spazierte“ er durch eine Stadt, die sich langsam verbarrikadierte. Vor den Geschäften waren die Eisenrollos heruntergelassen. In den Fensterhöhlen des Münsters und um die Statuen von Goethe und Kléber häuften sich Sandsäcke. In einem Lädchen hing ein Plakat: “Geschlossen bis zum Sieg”.
Taubenschwärme fielen auf den leeren Plätzen ein. “Auf den Straßen waren nur Katzen und Hunde”, erzählt Charles Muller, der als junger Oberstleutnant in die verlassene Stadt zurückkam. Den 1. September erlebte er als Sommerfrischler auf dem Land. Jetzt wollte er sehen, was mit seinem Haus geschehen war. Es war ein düsterer Tag, irgendwann im Herbst. Unkraut wucherte zwischen den Pflastersteinen und Mauerritzen. Ein einziges Restaurant war geöffnet, das als Offizierskantine diente. In der Orangerie, dem Stadtpark, in dem es einen kleinen Zoo gab, hatte jemand die Türen der Käfige aufgeschlossen. Die Tiere liefen frei herum. Charles Muller holte ein paar Flaschen Wein aus dem Keller für die Kameraden. „Das Haus war, wie ich es verlassen hatte. Dann ging ich wieder.”
In der Fremde
Drei Wochen dauerte die Irrfahrt der Grieswalds. Von Bruyères nach Périgueux. Und weiter in die Vogesen. Endlich kam die Familie in dem kleinen Dorf Issac an, das ein Jahr lang ihr zuhause sein sollte. Während im Elsass Badezimmer zum Lebensstandard gehörten, gab es hier weder elektrisches Licht noch fließendes Wasser. Nicht einmal ein Plumpsklo. “Mein Vater und mein Bruder haben uns dann eines gebaut“. Lina Grieswald lacht. „Eine Zinkwanne, darüber ein Brett mit einem Loch darin. Das war unsere Toilette.“ Die einzige Feuerstelle im Haus war ein offener Kamin in der Küche, durch den es hereinregnete. Der Vater deckte ihn mit einem Stück Blech ab, stellte auch Fallen für die Ratten auf. Er gewann das Vertrauen der Dorfbewohner, weil er Französisch sprach und – als gelernter Gärtner – ihnen zeigte, wie man Bäume beschneidet.
Mehr als acht Monate werden vergehen, bis Paul Martin in sein Kriegstagebuch schreibt: “Die Wehrmacht greift an, vernichtender Feldzug in Belgien und Holland. Das ist der Krieg!” Am 15. Juni 1940 rollten die ersten Panzer der erwarteten Armee bei Colmar über den Rhein. Hitlers “Reichsstatthalter” weckte Straßburg aus der Totenstarre.
Ein Drittel der Einwohner kehrte nicht zurück in die besetzte Stadt. Sie zogen es vor, statt “heim ins Reich” in entferntere Regionen Frankreichs zu gehen oder, noch weiter weg, nach Algerien, damals eine französische Kolonie. Dorthin ging auch Lina Grieswalds Bruder. Sie selbst kehrte mit den Eltern zurück auf dem Bauernhof. „Alles war kaputt, die Tiere geschlachtet und gegessen.” Verwandte kauften dem Vater eine neue Kuh. Und er fing wieder von vorne an.
Dieser Text erschien erstmals im Jahr 1999 im Berliner „Tagesspiegel“. Ich bin sicher, dass dieses Kapitel des Zweiten Weltkriegs heute noch den meisten Menschen ebenso unbekannt ist wie damals. Auf die Idee zu der Geschichte brachte mich der Zufall – ein Nebensatz in dem Roman „Les Nuits de Strasbourg“ (Nächte von Straßburg) der algerischen Schriftstellerin, Regisseurin und Historikerin Assia Djebar. Den Roman las ich, weil ich damals mein Buch über arabische Filmemacherinnen schrieb. Leider habe ich zu dieser Zeit bei journalistischen Recherchen noch nicht fotografiert und daher keine Fotos der Protagonistin und der Protagonisten.