Kultur Reisen Welt

Reisen als Friedensmission

75 Jahre Servas International: eine alte Idee bleibt jung.

Servas-International_Servas-Germany_Reisen_Frieden_Rebecca-Hillauer
©Servas International

Das Netzwerk, gegründet im Juli 1949 von dem US-amerikanischen Kriegsdienstverweigerer Bob Luitweiler, hat ein Ziel: Es will Reisende und Gastgebende aus aller Welt zusammenzubringen. Die Begegnungen sollen Verständnis, Toleranz und Weltfrieden schaffen.

Zum Radiobeitrag

Mein Radiobeitrag und der folgende Text entstanden zum 70. Jubiläum von Servas International vor fünf Jahren. Den Text schriebe ich für Publik-Forum (leider gibt es keinen Link zum Artikel). Einige Sätze habe ich leicht angeglichen, um einen Anachronismus zu vermeiden. Ich selbst bin seit 2018 Servas-Mitglied und habe als Reisende spannende, aufregende und berührende Begegnungen gehabt. Hier erzählen zwei andere Mitglieder aus Deutschland von ihren Erfahrungen:

„In zwei Monaten fliege ich in die USA“ hatte Markus Kunert allen seinen Freunden und Bekannten erzählt. „Dann werde doch Mitglied bei Servas“, empfahl ihm ein Freund, als sie sich im Sportverein trafen. 30 Jahre ist das nun her. Auch Isolde Lederer erfuhr kurz vor ihrer Australienreise von einer Freundin, dass man über Servas abseits der Touristenpfade Einheimische kennen lernen und sogar bei ihnen übernachten kann. „Ich dachte, das ist genau das, was ich früher gemacht habe, als ich noch Studentin war.“

Markus Kunert bei einem Servas-Trip in Lissabon ©privat

Mitgebracht von ihren Reisen haben beide viele Geschichten von überraschenden und erstaunlichen Begegnungen. Markus Kunert zum Beispiel von dem 80-jährigen US-Amerikaner, der früher viel in Europa gereist war. Bald fanden sie heraus, dass darunter viele Orte waren, die auch Kunert kannte. „Ich fand das sehr spannend, uns über die gleichen Orte auszutauschen und sie mit diesem großen zeitlichen Unterschied zu sehen.“

Isolde Lederer erinnert sich noch immer an eine Modenschau in der Nähe von Kapstadt. Statt überschlanker junger Models mit antrainiertem Hüftschwung präsentierten dort Frauen jeden Alters und jeder Figur selbst genähte bunte Kleider. Viele waren reifere rundliche „Mamas“. Und alle hatten Spaß. Isolde Lederer staunte nicht schlecht. Ihre Gastgeberin hatte sie zu der Veranstaltung mitgenommen. Sie stellte ihr dort noch eine Sozialarbeiterin vor, die sie am nächsten Tag zu ihrem Arbeitsplatz in einem Behindertenheim in einem Township mitnahm. „Als normale Touristin wäre ich dort nie hingekommen.“

Isolde Lederer ©privat

Genau um solche Begegnungen geht es bei Servas. Gegründet wurde die gemeinnützige Organisation im Juli 1949, im Schatten des Zweiten Weltkriegs und kurz nach den Vereinten Nationen, von einer Gruppe Studenten um den US-amerikanischen Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer Bob Luitweiler in Dänemark. Das Netzwerk vermittelte anfangs vor allem verarmten Deutschen kostenlose Unterkünfte im Ausland. Durch den Kontakt mit Menschen anderer Nationen sollten sie sich von möglicher Naziideologie befreien.

Bald wurde das Konzept auf andere Länder ausgeweitet, denn die Kernidee ist universell: Wenn Menschen sich kennen lernen, führen sie weniger leicht Krieg gegeneinander. Heutzutage hat Servas 15.000 Mitglieder in mehr als 100 Ländern und seit 1973 einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Der Name geht zurück auf das Esperanto-Wort „Servas“ – für „Dienst“. Ziel ist es, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Weltanschauung, Hautfarbe und Religion zusammenzubringen. Man kann dabei Reisender oder Gastgebender sein.

Isolde Lederer und Markus Kunert sind seit mehr als zwanzig Jahren beides. Zur Zeit seiner ersten Reise in die USA wohnte Kunert noch im Studentenheim, inzwischen hat er Familie und in der Altbauwohnung in Berlin genügend Platz, um Gäste unterzubringen. Mit 50 Jahren reist er zudem weniger als früher. „Da finde ich es super, als Gastgeber die Welt zu Hause zu begrüßen.“ Zum Beispiel die 90-jährige Lady aus London, die jedes Jahr zu den Berlinale Filmfestspielen nach Berlin kommt. Oder die junge Italienerin, die Kunert zur Geburtstagsfeier seiner Mutter mitnahm. Sich kennenlernen, so die Idee, funktioniert nur, wenn man Zeit miteinander verbringt.

Und das kann durchaus anstrengend sein. „Man muss ein Grundinteresse an anderen Menschen und Lebensformen haben“, meint Markus Kunert. Gespräche seien oft auch sehr intensiv. Denn statt über den neuesten Kinofilm würde schnell über sehr private Dinge geredet, die einen emotional bewegen. Der Komfort der Unterkünfte unterscheidet sich beträchtlich. Kunert hat schon auf Sofas in Wohnküchen geschlafen und in einem Raum zusammen mit vier Brüdern. „Es geht nicht darum, ob ich ein Zimmer mit Meer- oder Bergblick habe. Menschen laden ein in das eigene Zuhause. Und das ist dann so, wie es ist“, bringt Isolde Lederer es auf den Punkt.

Die Erfahrungen, die man als Reisender gesammelt hat, helfen dabei, ein guter Gastgeber zu sein. Und umgekehrt. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn jemand den Kühlschrank leer isst, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.“ Die Regeln für den Aufenthalt bestimmen immer die Gastgebenden. Sie entscheiden auch, ob jemand länger als zwei Nächte bleiben darf. „Das hängt davon ab, ob die Chemie stimmt“, meint Lederer. Niemand sei gezwungen, einen Gast aufzunehmen. Beide Seiten können einen Aufenthalt jederzeit abbrechen, wenn eine sich mit dem anderen unwohl fühlt. Natürlich kommt es auch manchmal zu Missverständnissen. „In einem Land bedeutet Kopfschütteln NEIN, in einem anderen Land schnalzt man dafür mit der Zunge. Daraus kann man ja lernen.“

Längst ist das Reisen mit Servas keine klassische „Friedensmission“ mehr wie in den Anfangszeiten. Dass sich bei einem internationalen Mitgliedertreffen ein Iraner und ein Israeli über ihre Familiengeschichten unterhalten und darüber, wie sie den Konflikt im Nahen Osten erleben, passiert eher selten. „Doch jede Begegnung ist auch eine Friedensbotschaft“, meint Isolde Lederer. Ein Gast aus Ruanda hätte ihr zum Beispiel von einem Projekt für Männer gegen Männergewalt in seiner Heimat berichtet. „Über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, ist einfach eine große Bereicherung.“

Servas ist eine gemeinnützige, nicht kommerzielle Plattform, das unterscheidet sie von anderen wie AirBnB und Couchsurfing. Dort steht die Suche nach einem Übernachtungsplatz im Vordergrund. Die zwischenmenschliche Begegnung ist eher ein Nebeneffekt. Bei Servas ist es genau umgekehrt. Deswegen kostet weder die Vermittlung noch die Unterkunft selbst etwas. Es gibt auch kein Online-Bewertungssystem. „Mit manchen Menschen hat man sich ganz viel zu sagen, mit anderen ist es oberflächlicher. Wie will man das bewerten?“ sagt Isolde Lederer zur Begründung.

Verbindlichkeit, Sicherheit und Vertrauen werden bei Servas dagegen groß geschrieben. Wer Mitglied werden will, muss sich einem persönlichen Gespräch unterziehen, in dem ein geschulter „Interviewer“ die Ziele und Arbeitsweise der Organisation erklärt. Isolde Lederer und Markus Kunert sind inzwischen selbst Interviewer. Sie überprüfen nicht nur die Personalien, sondern wollen im Gespräch auch klären: „Kann sich die Person, die Mitglied werden will, auf andere einstellen? Ist sie bereit, sich zu öffnen?“ Einen ersten Eindruck vermittelt auch der so genannte „Letter of Introduction“, eine kurze Selbstdarstellung mit Lichtbild, die jeder Bewerber und jede Bewerberin mitbringen muss.

Verläuft das Gespräch erfolgreich, erhält man Zugang zur Mitgliederliste. Als zukünftig Reisender kann man sich den potentiellen Wunschgastgeber im jeweiligen Reiseland aussuchen. Neben den Kontaktdaten erfährt man weitere persönliche Angaben von Gastgebern, wie zum Beispiel Beruf, Sprachkenntnisse oder Hobbys. Ob sie allein leben oder mit Familie, und in welchen Ländern der „Host“ selbst schon unterwegs war. Beschrieben ist auch, ob ein Schlafsack zwingend ist, ob die Familie Haustiere hat oder welche aufnimmt und ähnliches. Es gibt auch „Day Hosts“, die keine Übernachtung, sondern nur Begleitung tagsüber anbieten. Hat man jemanden ausgewählt, bewirbt man sich, meist per Email, als Gast. Der Mail hängt man den „Letter of Introduction“, den man für das Interview geschrieben hat.

Servas Germany ist mit rund 2000 Mitgliedern zu den größeren Ländersektionen. Mitunter hört der Vorstand Klagen von Eltern. Die jungen Erwachsenen sagten: „Ich gehe zu Couchsurfing, was soll ich ein Interview machen?“ Zumindest die deutsche Sektion will jedoch an dem Prinzip festhalten. Der persönliche Kontakt soll dazu beitragen, die Werte und Ziele der Organisation auch im Zeitalter von Facebook, Instagram und Twitter [inzwischen X] zu bewahren. Natur- und Umweltschutz sind mittlerweile in den Statuten verankert. Reisende sollen einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Deshalb werden aus Spenden nicht nur Mitgliederversammlungen finanziert, sondern auch internationale Gruppentreffen, Jugendcamps und Alpenwanderungen. Zudem gibt es regelmäßige Regionaltreffen.

Allerdings: Wie Servas selbst, sind viele Mitglieder in die Jahre gekommen. Neue Mitglieder gewinnt die Organisation nach wie vor vor allem durch Mundpropaganda. Viele fürchten, das sei nicht mehr zeitgemäß. Isolde Lederer, inzwischen 63, sieht das anders: „Die Grundidee ist großartig. Damit hat Servas seit 70 Jahren gute Erfahrungen gemacht. Insofern ist das ein Erfolgsmodell.“ Markus Kunert gibt ihr recht. „Viele junge Leute, die für ein Interview zu mir kommen, haben die gleichen Ideale wie ich sie hatte, als ich 20 war.“

Servas Online, eine weltweite Datenbank, soll das Reisen mit Servas einfacher und für jüngere Leute attraktiver machen. Auf der Homepage stehen viele Reiseberichte. Eine junge Frau etwa schreibt über ihre Erfahrungen in Japan, die West-Ost Begegnung sei doch etwas schwierig gewesen – zum Beispiel auf dem Boden zu essen und zu schlafen. „Und nirgendwo habe ich Süßigkeiten gefunden, die für mich süß genug waren. Aber am Ende habe ich alles genossen, was zum Lernen und Abenteuer gehörte.“

Markus Kunert und seine Familie waren vor zwei Jahren Gäste bei einem britischen Farmer, der als Selbstversorger lebt. „Ein völlig anderer Lebensentwurf. Ich fand es super, meinen Kindern diese Vielfalt an Möglichkeiten zu zeigen.“ Sein Sohn, inzwischen 18, sei zur Zeit mit seiner Freundin unterwegs in Australien. Natürlich mit Servas.


Nochmals: Dieser Text ist zum 70. Jubliäum von Servas vor fünf Jahren geschrieben. Servas Deutschland hat jetzt einen neuen 1. Vorsitzenden. Der Tenor für die Zukunft soll optimistischer sein, und die Interviews sollen von den jungen Leuten positiv wahrgenommen werden. Mehr demnächst auf Radio in Audio.

Dieser Beitrag entstand in Eigenproduktion. Unterstützen Sie mich, unabhängig zu arbeiten, mit einer Spende. Vielen Dank.