Die indigene Gemeinde in den USA hat ein weiteres Opfer zu beklagen.
Esther Wolfe, Angehörige des Lakota Oglala-Stammes, wurde 2019 von ihrem ehemaligen Lebensgefährten gekidnappt, neun Tage lang gefangen gehalten und brutal misshandelt. Sie überlebte. Nun ist sie in Rapid City, South Dakota, Opfer einer „öffentlichen Hinrichtung“ geworden.
Begegnung im Dezember 2022
Es ist ein kalter Dezembertag, als ich Esther Wolfe in Rapid City in einem indigenen Kulturzentrum treffe. Sie trägt ein hellgraues Hoodie, ist ungeschminkt und zurückhaltend, aber klar in dem, was sie sagt. Offen spricht sie über das, was ihr von ihrem Ex-Partner drei Jahre zuvor angetan worden war. Sie wolle, sagt Esther, ihre Geschichte öffentlich machen, weil sie hoffe, dass dadurch andere junge Frauen, die – wie einst sie selbst – in einer Missbrauchsbeziehung leben, den Mut finden zu gehen. Zu dieser Offenheit motiviert hatte sie ihre Begegnung mit Susan Shangreaux vom Opferzentrum des Oglala Lakota-Stammes in Pine Ridge. Die Hilfeeinrichtung hat auf ihrer Facebook-Seite eine lange Liste von Namen: alles Oglala-Lakota Frauen und Mädchen, die von ihren aktuellen oder ehemaligen Ehemännern, Lebensgefährten oder Freunden ermordet worden sind.
Esther Wolfe hatte mehr Glück. Bei unserem Gespräch hat sie zwar noch immer mit einem posttraumatischen Stresssyndrom zu kämpfen. Und sie hat sich erst seit zwei Tage nicht mit Alkohol betäubt. Aber sie reflektiert nicht nur selbstkritisch ihren eigenen Anteil an dem, was sie erlebt hatte, sondern auch den ihrer Community: Wo Frauen eigentlich respektiert werden sollen, häusliche Gewalt aber an der Tagesordnung ist. Wo junge Mädchen und Jungen von ihren Eltern, Onkeln und älteren Geschwistern toxische Geschlechterrollen lernen. Wie wird ihr junger Neffe wohl eines Tages seine Freundin, seine Frau, seine Kinder behandeln, nachdem er mit ansah, wie Esthers ehemaliger Lebensgefährte sie bis zur Bewusstlosigkeit würgte?
Das alles erzählte Esther mir an jenem Dezembertag in Rapid City. Einiges davon ist in meinem Radiofeature über die vermissten und ermordeten indigenen Frauen zu hören. Und nun die Mail, die ich anfangs gar nicht glauben will: „Meine Schwester Esther Wolfe wurde hier in Rapid City ermordet, und ich möchte, dass ihre Geschichte gehört wird.“ Was Esthers Schwester Krystal schrieb, konnte nicht wahr sein. Ist es aber leider doch. Nach Angaben der zuständigen Staatsanwaltschaft wurde Esther Wolfe das Opfer einer „öffentlichen Hinrichtung„.
Am Abend des 21. Februar 2024 wurde Esther Wolfe in Rapid City auf einem Parkplatz durch mehrere Schüsse getötet. Der mutmaßliche Drahtzieher, der 23-jährige Ezekial Mayweather, soll nicht nur den Mord inszeniert, sondern auch die Schusswaffe besorgt und einen zweiten Mann angewiesen haben, die tödlichen Schüsse abzufeuern. Als Motiv nannte Staatsanwältin Lara Roetzel den Irrglauben von Mayweathers Familie, Wolfe sei für den Tod von Ezekials Bruder im Jahr 2019 verantwortlich. Die Strafverfolgungsbehörden hätten jedoch bestätigt, dass dieser Verdacht unbegründet sei. Esther Wolfe wurde am Geburtstag von Mayweathers Bruder ermordet. Sie war 25 Jahre alt. Ihre Familie fordert öffentlich Gerechtigkeit für sie, das heißt eine harte Bestrafung der Täter.
Das ganze Interview mit Esther Wolfe hören Sie in Englisch auf meinem Substack Blog hier.
Nachruf der Familie
Esther Marie Wolfe
„Unci Maka Akan Mani Winyan“
May 30, 1998 ~ February 21, 2024
Viele Menschen erzählen uns, welch großen Einfluss Esther auf ihr Leben hatte. Esther wollte immer nur anderen helfen. Das war, wozu sie auf die Welt gekommen war – um zu helfen. Ihr Lächeln war so strahlend, und ihre Persönlichkeit war ansteckend, Esther war unübertroffen in ihrer Schönheit. Sie hat einige sehr traumatische Ereignisse durchgemacht. Dadurch veränderte sich ihre Persönlichkeit, sie war fast nicht mehr wiederzuerkennen, aber ihr Lächeln und ihre Liebe waren immer noch da.
Nachdem sie in ihrer kurzen Zeit hier auf der Erde so viel durchgemacht hatte, wollte sie auch dann noch anderen helfen. Esther gab den Bedürftigen die Kleider, die sie am Leib trug, und ihr Essen. Es macht uns wütend, wenn wir daran denken, dass wir nun ohne sie leben müssen. Was ist das Leben ohne ESTHER MARIE? Wir müssen jetzt die Erinnerungen in Ehren halten und beten, dass sie uns durch diese schwere Zeit führt. Wenn Sie Esther kannten, dann wussten Sie, dass sie immer mitfühlend zu anderen war, weil sie erfahren hatte, wie grausam Menschen sein können.
Die überwältigende Liebe, die wir jetzt in dieser schweren Zeit erfahren haben, lässt den Schmerz und die Verletztheit für einige Sekunden verschwinden – um dann wieder zu Schmerz und Wut zu werden. Wir möchten, dass jeder weiß, dass Esther jeden geliebt hat, besonders ihre Nichten und Neffen und diejenigen, die sie als ihre Eigenen bezeichnet hat. Bitte vergesst nicht, Eure Lieben zu umarmen und sie auf der Erde in Ehren zu halten. Unsere Familie kam zu kurz, weil uns kein Morgen versprochen worden ist. Esther Marie Wolfe wurde ihrer Familie nicht nur einmal, sondern zweimal gestohlen.
(Der Nachruf ist zuerst auf Facebook in Englisch erschienen und von mir übersetzt worden.)