Das Urteil kann jeden Tag fallen. Und was sagt die EU?
Whistleblower Chelsea alias Bradley Manning lebt längst wieder in Freiheit, während Julian Assange seit dreizehn Jahren um seine Freiheit kämpfen muss. Nun wird der High Court in London über seine Auslieferung entscheiden. In der vergangenen Woche gab es noch eine Aussprache im EU-Parlament.
EU-Parlament
Mittweoch, 28. Februar 2024: Endlich ist es soweit. Zumindest für diejenigen EU-Abgeordneten, die zwei Tage zuvor für einen Sitzungspunkt „Julian Assange“ gestimmt haben. Die EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen muss nun ihr Schweigen brechen und im Europäischen Parlament eine Erklärung zur drohenden Auslieferung von Julian Assange abgeben! So schreibt auf X Patrick Breyer von der Piratenpartei. Sie hatte die Abstimmung durchgesetzt, die dann denkbar knapp ausfiel – für eine Aussprache im Parlament. Union, Freie Wähler und Liberale stimmten dagegen. Zuvor hatten auf Initiative der Piraten bereits 46 Europaabgeordnete verschiedener Fraktionen an den britischen Innenminister appelliert, eine mögliche Auslieferung des Wikileaks-Gründers an die Vereinigten Staaten zu verhindern.
An diesem Mittwochabend ist es bereits 21:30 Uhr vorbei, als der Sitzungspunkt „Die Auslieferung und strafrechtliche Verfolgung von Julian Assange und die Auswirkungen auf die Pressefreiheit“ an der Reihe ist. Auf der Gästetribüne sitzt auch der Vater von Julian Assange, John Shipton. Er ist aus London gekommen, wo er die Tage zuvor den Prozess um seinen Sohn verfolgt und vor dem Gericht für dessen Freilassung protestiert hat. Einige Hundert Menschen demonstrierten mit ihm. Eine relativ geringe Zahl, wenn man die internationale Dimension des Prozesses bedenkt. Nicht anders an diesem Abend in Straßburg. Im EU-Parlament blickt Assanges Vater auf einen beinahe leeren Sitzungssaal. Im Livestream sind höchstens ein Dutzend Abgeordnete zu sehen. Für John Shipton muss es es ein deprimierender Anblick gewesen sein. Vielleicht sogar ein böses Omen. Die achtlose Geste eines Parlaments: Hier wird gerade nichts behandelt, was für den Politikbetrieb der EU Bedeutung hat.
Manning und Assange
Bradley Manning war IT-Spezialist der US-Streitkräfte und amerikanischer Staatsbürger, als er WikiLeaks die geheimen Militärdokumente zuspielte. Julian Assange ist Australier, Hacker und Journalist und hat als solcher die Dokumente auf WikiLeaks veröffentlich, das ebenfalls keine US-Firma ist. Bradley Manning wurde zu 35 Jahren Haft verurteilt und nach sieben Jahren von Präsident Barak Obama begnadigt. Das Militär genehmigte und finanzierte die Geschlechtsumwandlung zu Chelsea Manning. 2019 wurde sie in Beugehaft genommen, weil sie sich weigerte, vor einer Grand Jury auszusagen, die gegen WikiLeaks ermittelte. Chelsea Manning ist wieder frei. Julian Assange sitzt nach sieben Jahren in der ecuadorianischen Botschaft inzwischen seit fünf Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh – überwiegend in Einzelhaft. Unter Spionageanklage drohen ihm 175 Jahre Gefängnis. Also der sichere Tod hinter Gittern.
Warum diese ungleiche Behandlung? Wird Manning als Einzeltäter, Assange hingegen als Multiplikator gesehen? Laut der US-Staatsanwaltschaft soll Assange Manning zum Rechtsbruch angestiftet haben. Im Frühjahr 2010 schrieb Manning dem WikiLeaks-Gründer per Chat, dass er bald keine neuen Dokumente zur Veröffentlichung mehr habe. „Curious eyes never run dry in my experience“ („Meiner Erfahrung nach bleiben neugierige Augen nie trocken“), soll Assange laut Anklageschrift darauf geantwortet haben. Die Staatsanwaltschaft legte das als Aufforderung aus, weiteres Geheimmaterial zu stehlen. Dann wäre Assanges Äußerung eine Anstiftung zum Rechtsbruch. Und das darf ein Journalist nicht.
Würde Assange an die USA ausgeliefert: Wären ein fairer Prozess und gute Haftbedingungen zu erwarten? Als Vize-Präsident verglich Joe Biden im Jahr 2010 Assange mit einem „Hightech-Terroristen“. Während der Amtszeit von Präsident Donald Trump soll die CIA unter Mike Pompeo die Entführung und sogar Ermordung von Assange diskutiert haben, nachdem WikiLeaks im Jahr 2017 „Vault 7“, eine Reihe von CIA-Hacking-Tools, veröffentlicht hatte. Während des aktuellen Gerichtsprozesses in London hatte die amerikanische Staatsanwältin bestätigt, dass die USA gegen Assange neue Anklagen erheben könnten, die sogar die Todesstrafe nach sich ziehen. Großbritannien darf niemanden in ein Land ausliefern, in dem die Todesstrafe droht. Spionage gilt zudem nach britischem Rechtsverständnis als politisches Verbrechen – das laut Abkommen zwischen Großbritannien und den USA von einer Auslieferung ausgenommen ist.
Eine hintergründige Pro-Contra TV-Debatte bei „Monitor“ StudioM von 2022:
Was ist wichtiger: der Schutz von Menschenrechten und die Pressefreiheit oder der Schutz von Staatsgeheimnissen und des Machtapparates?
Moderation: Georg Restle. Seine Gäste: Nils Melzer (UN-Sonderberichterstatter über Folter), John Kornblum (ehemaliger US-Botschafter in Deutschland), Herta Däubler-Gmelin (Bundesjustizministerin a.D.) und Constanze Kurz (Sprecherin des Chaos Computer Clubs).
„Wohin würde es führen, wenn wir über Kriegsverbrechen von Ländern, mit denen wir verbündet sind, nicht mehr informiert werden könnten“, fragt die ehemalige Bundesjustzizministerin Herta Däubler-Gmelin in der Online-Debatte von „Monitor“ 2022. Zwei Jahre danach ist in der Europäischen Union die Verordnung über digitale Dienste (englisch Digital Services Act) in Kraft. Mit ihr will die EU-Kommission große Internetplattformen (seit dem 16. November 2023) und seit dem 17. Februar 2017 auch kleinere Anbieter „regulieren“, sprich kontrollieren. Und letztendlich zensieren. „Desinformation“ soll verboten werden. Der russische Auslandssender Russia Today ist es seit dem Ukrainekrieg bereits. Wie sieht die Zukunft von WikiLeaks aus?
EU-Kommission
Bei der Aussprache um Julian Assange im EU-Parlament tritt zum Abschluss Thierry Breton ans Rednerpult. Es ist mittlerweile nach 22 Uhr. Der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen mit der erweiterten Zuständigkeit für Verteidigung und Raumfahrt überbringt die Stellungnahme der EU-Kommission zum Fall Julian Assange. Breton braucht nur drei Sätze, um dessen Vater, der auf der Gästetribüne gespannt zuhört, die Hoffnung auf eine Solidaritätsadresse zu nehmen:
Wir sind uns alle einig, dass Meinungsfreiheit und eine freie und unabhängige Presse in jeder demokratischen Gesellschaft unerlässlich sind. Wie bereits erwähnt, verhandelt derzeit ein Gericht im Vereinigten Königreich über den Auslieferungsantrag von Julian Assange. Wir äußern uns nicht zu den laufenden Gerichtsverfahren.
Thierry Breton
Dann rafft der EU-Kommissar sein Redeblatt zusammen und geht auf seinen Platz zurück. Der nächste Sitzungspunkt des Parlaments wird aufgerufen. Es geht um Neuregelungen zum Kfz-Führerschein.
Am nächsten Tag fasst Martin Sonneborn, Bundesvorsitzender DIE PARTEI, im nachmittaglich leeren EU-Plenarsaal seine Gedanken zusammen. Eine leichte Abwandlung seiner Rede vom Vortag im Parlament. In dem kurzen Video sagt er u.a.:
Mit Assange steht und fällt das Grundprinzip von Pressefreiheit und Demokratie. Wenn dieselbe EU, die elaborierte Langzeitstudien zu Plastikdeckeln an Milchtüten zustande bringt, ausgerechnet zu Assange seit dreizehn Jahren nicht das Geringste zu sagen hat, dann könnte sie deutlicher nicht zeigen, für welche Gesellschaft und welche Werte sie in Wahrheit steht.
Martin Sonneborn
Angesicht der Möglichkeit, dass bereits diese Woche das Urteil über Julian Assange gesprochen und dieser dann womöglich binnen Stunden in ein Flugzeug Richtung USA gesetzt werden könnte, hat Martin Sonneborn noch ein längeres Statement ins Netz gestellt.
Auf Sonneborns YouTube-Kanal findet sich auch ein Video mit Julian Assange:
So gut wie jeder Krieg, der in den letzten 50 Jahren begonnen wurde, war ein Resultat von Medienlügen. Die Medien hätten die Kriege stoppen können, wenn sie nicht die Regierungspropaganda übernommen hätten. Das bedeutet, die Bevölkerung will keinen Krieg. Sie muss zu Kriegen verleitet werden. Wenn wir ein gutes Medienumfeld haben, haben wir auch ein friedliches Umfeld.
Julian Assange