Ein kurzer Tauchgang in die Geschichte
„Nazi“ ist in Deutschland ein gängiges Schimpfwort geworden, mit dem politisch Andersdenkende verunglimpft werden sollen. Die darin enthaltene Bagatellisierung der historischen Vorbilder scheint den wenigsten bewusst. Inzwischen werden auch die Insignien des heutigen Deutschland mit dem „Dritten Reich“ in Verbindung gebracht.
Der Anlass
Es begab sich gegen Ende Januar auf dem Alten Markt in Stralsund: Rund 1000 Menschen demonstrieren an diesem Abend „gegen Rechts“. Die Kundgebung trägt den Titel „Demokratie verteidigen“. Spontan steigt ein Mann auf die Bühne. Unter all den tollen bunten Flaggen fehle ihm eine Flagge: die schwarz-rot-goldene Flagge, sagt er ins Mikrofon. Einzelne Buh-Rufe erschallen aus dem Publikum. Der Mann – ein Lehrer, wie er später selbst sagt – legt nach: „Und wir hätten vielleicht noch ein anderes Lied singen können… Einigkeit und Recht und Freiheit. Ihr kennt es alle.“ Doch keiner will das Lied singen. Im Gegenteil. „Ich sch… auf Deutschland!“ und „Nazis raus!“, brüllen jetzt Aufgebrachte aus der Menge. Der Veranstalter entreißt dem Lehrer das Mikro, und zwei Polizisten führen den Mann ab.
Also: „Schwarz-Rot-Gold“ + Deutschlandlied = Nazi. So offenbar die Rechnung dieser Rufer. Da ich sie nicht fragen kann, wie sie auf diese Gleichung gekommen sind, gehe ich anders vor und schaue in die Geschichte. Was haben die Bundesflagge und die Nationalhymne mit den Nazis zu tun?
Deutschlandfahne
Fangen wir mit der Nationalflagge an: Ihre Geschichte beginnt mit einer Gruppe Studenten. Einige von ihnen hatten in schwarzen Uniformen mit roten Vorstößen und goldfarbenen Knöpfen in den Befreiungskriegen 1815 gegen Napoleon gekämpft. Um ihren Zusammenhalt nach außen zu demonstrieren, gründeten sie danach die „Jenaer Urburschenschaft“. Ihr Symbol: eine schwarz-rote Fahne mit goldener Verzierung. Als 1848 die Revolution begann, avancierten die drei Farben zum Sinnbild für nationale Einheit und bürgerliche Freiheit. In Anlehnung an die französische „Trikolore“ bezeichneten die Revolutionäre die Flagge als „Dreifarb“.
Das erste deutsche Parlament, die Frankfurter Nationalversammlung, war mit „Schwarz-Rot-Gold“ geschmückt. Im darauf folgenden Deutschen Kaiserreich wurden die Farben ab 1871 von „Schwarz-Weiß-Rot“ als Nationalfarben abgelöst. Erst in der Weimarer Republik machte man „Schwarz-Rot-Gold“ wieder zur Flagge Deutschlands. Rechtsradikale Nationalisten und Nationalsozialisten verspotteten die Flagge als „Schwarz-Rot-Mostrich“ (Mostrich = Senf). Nach 1933 beseitigte das NS-Regime schnell alle Spuren der verhassten republikanischen Nationalfarben und führte die kaiserlichen Nationalfarben „Schwarz-Weiß-Rot“ wieder ein – und zusätzlich die Hakenkreuzfahne, die die alte Fahne ab 1935 ganz ersetzte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schmücken sich beide deutsche Staaten mit der Flagge der Weimarer Republik und auf das Erbe der Revolution von 1848. Die DDR setzt allerdings 1959 noch Hammer und Zirkel in die Mitte, um sich von der Bundesrepublik Deutschland abzugrenzen.
Was also hat die Deutschlandfahne mit den Nazis zu tun? Meine Schlussfolgerung ist: gar nichts.
Deutschlandlied
Und die Nationalhymne? August Heinrich Hoffmann von Fallersleben hat den Liedtext anno 1841 gedichtet. Frankreich erhob zu jener Zeit gerade Gebietsansprüche auf das Rheinland – und von Fallersleben beschwor in seinem Liedtext den nationalen Zusammenhalt. Erst 1922 in der Weimarer Republik wurde Das Lied der Deutschen, kurz Deutschlandlied, mit seinen drei Strophen zur Nationalhymne erhoben.
Adolf Hitler ließ in seinem „Dritten Reich“ lediglich die erste Strophe singen:
Deutschland, Deutschland über alles,
1. Strophe Deutschlandlied
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt.
Anschließend folgte stets das Horst-Wessel-Lied. Der Liedtext wurde irgendwann zwischen 1927 und 1929 von „Sturmführer“ Horst Wessel geschrieben, dem Befehlshaber der paramilitärischen „Braunhemden“ der Nazis, der „Sturmabteilung“ oder SA. Das Lied avancierte schnell zur Parteihymne der Nationalsozialisten:
Die Fahne hoch!
Horst-Wessel-Lied
Die Reihen fest, geschlossen.
SA marschiert mit ruhigem festen Schritt.
…
Die Straße frei,
den braunen Batalionen!
Die Straße frei,
dem Sturmabteilungsmann!
Es schau’n aufs Hakenkreuz,
Voll Hoffnung schon Millionen.
…
Zum letzten Mal, wird nun Appell geblasen.
Zum Kampfe steh’n wir alle schon bereit.
Bald flattern Hitler-Fahnen,
über alle Straßen.
Die Knechtschaft dauert,
nur noch kurze Zeit.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Horst-Wessel-Lied verboten. Die erste Strophe des Deutschlandlieds, mit dem man Hitlers Herrschaftsanspruch über andere Völker assoziierte, wurde zum Tabu. Sollte Deutschland sich eine neue Nationalhymne geben? Das vorübergehende Vakuum wurde kreativ gefüllt, denn für das diplomatische Protokoll brauchte es eine Nationalhymne. So wurde zum Beispiel bei einem deutsch-belgischen Fußballspiel in Köln nach der belgischen Hymne der Karnevalsschlager „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ eingesetzt (eine Anspielung auf die drei westlichen Besatzungszonen). Noch 1953 musste Bundeskanzler Konrad Adenauer es über sich ergehen lassen, dass er bei seinem ersten Staatsbesuch in Chicago mit dem Gassenhauer „Heidewitzka, Herr Kapitän“ empfangen wurde. Adenauer war beides äußerst peinlich. Er entschied, Das Lied der Deutschen solle bleiben, offiziell aber nur noch die dritte Strophe gesungen werden. Sie gilt heute als Nationalhymne Deutschlands:
Einigkeit und Recht und Freiheit
3. Strophe Deutschlandlied
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!
Im Jahr 2018 sorgte die Gleichstellungsbeauftragte im Familienministerium, Kristin Rose-Möhring kurz für eine weitere Aufregung, als sie anlässlich des Weltfrauentags vorschlug, den Liedtext geschlechterneutral zu formulieren. Also „Heimatland“ statt „Vaterland“ und „couragiert“ statt „brüderlich“. In Österreich und Kanada sind die Nationalhymnen tatsächlich umgeschrieben worden. In Deutschland entschied man sich dagegen. Im Gegensatz zu den Nationalfarben ist die Nationalhymne allerdings im Grundgesetz bis heute nicht verankert.
Abschluss
Was hat also – zurück zu meiner Ausgangsfrage – die deutsche Nationalhymne, d.h. die dritte Strophe des Deutschlandliedes mit den Nazis zu tun? Die Antwort ist einfach. Und lautet, so wie bei der Deutschlandfahne: nichts. Offenbar wissen die aktuell für die Demokratie und „gegen rechts“ Demonstrierenden sowohl über die Fahne als auch über das Lied genauso viel – eben nichts. Das ist auch für diejenigen Spieler der Fußballnationalmannschaft anzunehmen, die statt beim Anpfiff im Stadion die Nationalhymne mitzusingen lieber schweigen. Sich, andererseits, aber bei der Weltmeisterschaft 2023 in Katar demonstrativ eine Regenbogenbinde um den Oberarm banden. Geschichte. Schnee von gestern? Dito „nur“ Ignoranz? Oder welche Beweggründe leiten (oder verleiten) diese Fußballspieler und vermeintlichen Demokratieverfechter, die Insignien ihres Landes so vehement abzulehnen? Sie vielleicht sogar zu verachten. Oder zu hassen?