Zum Welttag des Radios: Zeitreise durch das deutsch-polnische Breslau/Wroclaw
Vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb das deutsche Breslau mit seinem Radio Rundfunkgeschichte. Nach dem Krieg blieb das inzwischen polnische Wroclaw ein Hort von Kultur und zivilem Ungehorsam. Auch die jüdische Gemeinde lebte wieder auf. Aus meinem Archiv zum Welttag des Radios. Am 13. Februar 1946 sendete das United Nations Radio zum ersten Mal.
Radiomuseum
Im Sendegebäude von Radio Wroclaw. Im Erdgeschoss befindet sich das Radiomuseum. Über der Tür leuchtet eine rote Lampe, daneben befiehlt ein Schild: “Zu bei Rotlicht”. Drinnen, im holzgetäfelten Saal, wird aber keine Sendung aufgenommen, sondern es findet eine Führung statt. Tomasz Sikora erklärt einer Gymnasialklasse, wie Radio-Machen vor dem Zweiten Weltkrieg funktionierte. Soeben demonstriert er, wie man in der Vorkriegszeit Sound-Effekte produzierte: live und per Hand. Zum Beispiel mit zwei Holzklötzen. „Was soll dieser Sound sein?“, fragt er die Klasse. Es klingt wie Pferdegetrappel. Die jungen Leute erraten es ziemlich schnell.
„Wir erzählen den jungen Leuten immer als erstes von der deutschen Geschichte der Radiophonie oder des Radios in Wroclaw, in Niederschlesien.“ Der erste unabhängige Direktor von Radio Wroclaw nach 1989, also nach dem Mauerfall und damit auch nach der Wende in Polen, war Lothar Herbst. Er hatte deutsche Wurzeln. „Symbolisch zeigt das diese Verbindung zwischen Polen und Deutschland immer weiter immer fort.“
Jüdische Gemeinde
Bis zum Ende der Weimarer Republik, also bis 1933, lebte in Breslau eine bedeutende jüdische Gemeinde. Darunter Juden aus Osteuropa. Die meisten stammten aus Polen, waren traditionell und religiös-orthodox, und schotteten sich in ihrem “Städel” ab. Die deutschen Juden hingegen gehörten zum liberalen Bürgertum, waren integriert und patriotisch, viele der Männer hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft. Zwischen beiden Gruppen gab es latente Spannungen, weiß die Historikerin Katharina Friedla vom Yad Vashem-Institut in Jerusalem. „Alle antijüdischen Gesetze, die nach 1933 erlassen wurden, haben die polnischen Juden eigentlich nicht betroffen, weil die keine deutschen Staatsbürger waren.“ Daraus habe sich eine teils absurde Situation ergeben, etwa als die deutsch-jüdischen Schüler aus den Schulen ausgewiesen wurden. „Dann sind die polnisch-jüdischen Kinder noch in die deutsche Schule gegangen. Das war erlaubt, weil sie keine deutschen Staatsbürger waren.“
1938 wurden auch die polnischen Juden ausgewiesen. Breslau, bis dahin das Zuhause der drittgrößten jüdischen Gemeinde in Deutschland, wurde zu einer Hochburg des Nationalsozialismus. Zu dessen „Bollwerk im Osten“. Durch seine geographische Abgelegenheit war es lange Zeit außer Reichweite der alliierten Fliegerangriffe, so dass aus anderen Landesteilen hunderttausende nach Breslau evakuiert wurden. Bis Anfang Januar 1945 war die Stadt fast völlig intakt. Die Rote Armee hatte bereits die Oder erreicht – erst dann wurde die Zivilbevölkerung, bei Minusgraden, evakuiert. „Die NS-Führung hat die Stadt verbarrikadiert und zur Festung gestaltet. Um die Stadt zu verteidigen, hat man Schneisen in die Stadt gesprengt“, berichtet Eduard Mühle, Professor für Geschichte Ostmitteleuropas und Osteuropas an der Universität Münster. Man habe einen provisorischen Flugplatz angelegt, für den ein ganzer Stadtteil weichen musste. „Die Stadt wurde mindestens in gleichem Maße, wenn nicht sogar mehr, von innen heraus durch die NS-Vertreter selbst zerstört, wie gleichzeitig durch den Beschuss der Sowjets, die die Stadt seit März, April belagerten.“ Im Mai kam schon der erste Vortrupp der polnischen Verwaltung, die die Stadt übernehmen sollte.
Viele Breslauer Juden, deutsche wie polnische, kehrten 1945 zurück in ihre Heimatstadt, die nun zu Polen gehörte und Wroclaw hieß. „Die beiden Gruppen trafen dann in der Stadt wieder aufeinander, und da gab es viele Auseinandersetzungen, viele Probleme“, sagt Katharina Friedla vom Yad Vashem-Institut. Aufgrund dieser Spannungen und Konkurrenzkämpfe verließen schließlich die meisten deutschen Juden die Stadt. Aber nicht nur deshalb. „Sie wurden als Deutsche wahrgenommen und wurden vom sowjetischen Militär und auch von der polnischen Administration verfolgt.“
Die Regierung der neuen Volksrepublik Polen ließ schließlich auch die nicht-jüdischen Deutschen vertreiben. Im Gegenzug wurden Polen aus den an die Sowjetunion gefallenen Ostgebieten zwangsangesiedelt. Es kam zu einem fast völligen Austausch der Bevölkerung. Die Stadt war nun Teil der „wiedergewonnenen Gebiete“. So bezeichnete die neue kommunistische Regierung Schlesien, Pommern und Posen, weil diese Regionen im Mittelalter einmal polnisches Herrschaftsgebiet gewesen waren. Die Strategie nutzte wenig: Das ehemalige Breslau wurde zu einem Zentrum der oppositionellen Gewerkschaftsbewegung.
Solidarnosc und die Orangene Alternative
Damals, 1980, sei in Polen Kriegszustand gewesen, erzählt der Journalist Tomasz Sikora vom Radiomuseum. Die Medien seien vom Regime gleichgeschaltet worden. Doch etliche Tontechniker von Radio Wroclaw arbeiteten mit der Opposition zusammen. Stummer Zeuge dieser heimlichen Kollaboration ist im Radiomuseum ein kleiner schwarzer Kasten, so groß wie eine Schachtel Zigaretten – ein Radiotransmitter. Tomasz Sikora: „Die Techniker von Radio Wroclaw haben das zu Hause im Keller zusammengebastelt und Oppositionellen übergeben.“ Die nahmen ihre eigenen Sendungen auf – damals noch auf Tonkassetten, bauten in den Transmitter eine Antenne ein und dann…
In den Wohnungen hörten die Leute das ganz normale Propagandaradio… und plötzlich: „Hier spricht Radio Solidarnosc!“ Also der Rundfunk von Solidarność.
Tomasz Sikora, Journalist
Die Gewerkschaft Solidarność war aus einer Streikbewegung von Arbeitern im Sommer 1980 entstanden. Zwei Jahre später wurde sie durch ein neues Gewerkschaftsgesetz verboten – und Wroclaw zum Geburtsort einer neuen Protestbewegung. Sie nannte sich Orangene Alternative. „Wir waren keine politische Bewegung, sondern eine Bewegung der Gegenkultur. Wir haben uns als Künstler verstanden und uns künstlerischer Mittel bedient – Happenings, Performance, Aktion.“ So erinnert sich Agata Saracynska, Kunstkritikerin bei der unabhängigen Tageszeitung Gazeta Wyborczka. 1981 hatte sie in Wroclaw Kunstgeschichte studiert, zusammen mit Waldemar Fydrych, der zum Kopf der Orangen Alternative avancierte und sich selbst „Major“ nannte. Adam Chmielewski, Philosophieprofessor an der Universität von Wroclaw, war mit ihm befreundet. Eines Tages, erzählt er, sei Fydrych bei ihm mit einem Manuskript aufgetaucht, das später das Manifest der Orangenen Alternative geworden sei. „Er kam zu mir, weil er wusste, dass ich als einer von wenigen Studenten eine eigene Schreibmaschine besaß. Die waren damals Mangelware. Also tippte ich das Manifest. Er ließ es irgendwo, natürlich illegal, drucken und hat es dann überall verteilt.“
Unsere Gesellschaft war unter einer dicken Käseglocke eingeschlossen, unsere Aktionen wirkten wie ein Lufthauch. Wir waren nicht aggressiv. Wir nutzten das effektivste Mittel: Lachen.
Agata Saracynska, Journalistin
Mit dadistisch anmutenden Aktionen wollten die jungen Intellektuellen und Studenten das Regime öffentlich verspotten und lächerlich machen. Ihre Hauptwaffe: Zwerge. Zunächst in Form von Graffiti. Die Aktivisten malten sie auf Häuserwände überall dorthin, wo weiße Flecken davon zeugten, dass auf Befehl der Polizei Parolen der Solidarność übertüncht worden waren.
Diese Zwerge brachten einen Schimmer Hoffnung. Das Leben war so absurd damals in allen Bereichen. Die Absurdität, die das kommunistische Regime uns bot, war ziemlich düster. Diese unsere Absurdität machte Spaß!
Adam Chmielewski, Philosophieprofessor
Schließlich trug die Orangene Alternative die Zwerge auf die Straße. An kommunistischen Feiertagen wie dem Tag der Oktoberrevolution organisierte sie Demonstrationen – alle illegal. Mit orangefarbenen und roten Zipfelmützen auf dem Kopf verteilten ihre Anhänger an Passanten Toilettenpapier und Hygienebinden – Konsumgüter, die in der damaligen Planwirtschaft in den Läden Mangelware waren. Dazu riefen die Aktivisten: „Hurra, jetzt haben wir Rotkäppchen!“ und “Keine Freiheit ohne Zwerge!”
Nach dem Mauerfall
Wroclaw eignete sich für diese Aktionen, weil die Stadt zu der Zeit ein spezieller Ort war. Eine Stadt „auf neuem Grund“. Die Deutschen waren weg, und Polen aus allen Landesteilen zogen zu. Damals nannte man Wroclaw den „Wilden Westen“, denn noch in den 1980er Jahren gab es Streitigkeiten um die polnisch-deutsche Grenze. Deshalb gab es keine guten Straßen und keine gute Bahnverbindung nach Warschau. „Im Rückblick denke ich, das war ein Grund dafür, dass man damals in der Stadt Dinge tun konnte, die in anderen Teilen Polens undenkbar waren,“ sagt Agata Saracynska. Mit der Wende 1989 verlor die Orangene Alternative als Bewegung ihren Existenzgrund. Doch ihr Symbol, der Zwerg, lebt in Form einer Bronzestatue in der Fußgängerzone des postkommunistischen Wroclaw weiter.
Wieder erblüht ist seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in der Stadt auch eine lebendige jüdische Gemeinde. Von den Synagogen ist allerdings einzig die Synagoge Zum Weißen Storch erhalten. Es gibt auch eine jüdische Stiftung unter der Leitung der norwegischen Musikerin und Sängerin Bente Kahan. Mit ihrer Unterstützung wurde die zur Ruine verkommene Synagoge renoviert und zu einem Kulturzentrum ausgebaut. Eine Ausstellung erinnert dort an die Geschichte der Juden in der Stadt. Lange Zeit habe niemand dazu geforscht, weil es einfach keine Quellen dazu gab, denn die waren während des Krieges vernichtet worden, sagt Katharina Friedla vom Yad Vashem-Institut. „Die Erinnerung an dieses jüdische Leben dort wurde vergessen – und das auch aus politischen Gründen.“ Der Grund war der Kalte Krieg. Niemand habe sich getraut, dazu zu forschen. Erst Ende der Achtziger Jahre fingen polnische Historiker an, sich mit dieser Geschichte auseinander zusetzen. Die Jüdische Gemeinde zählt heute nur noch rund 300 Mitglieder, am Ende der Weimarer Republik 1933 waren es noch 23.000 gewesen.
Schlesische Funkstunde
In dieser Blütezeit der Stadt erlebte auch der Breslauer Rundfunk seine Hochphase. In dem Gebäude, das heute Sitz von Radio Wroclaw ist, sendete damals – auf Deutsch – die „Schlesische Funkstunde“. Die Sendung war eine Vorreiterin in der Hörspiel-Produktion. Gesendet wurde auf Mittelwelle. Als Antennenturm diente ein freistehender Holzturm, von der Firma Telefunken errichtet, der mit 140 Metern Höhe damals einer der höchsten Sendetürme der Welt war. „Hallo! Hier Welle Erdball!“ aus dem Jahr 1928 von Friedrich Walter Bischoff, dem damaligen Intendanten der Schlesischen Funkstunde, gilt als das letzte große Hörspiel in der Weimarer Republik.
(Frau:) Der Mensch benötigt.
Hörspiel „Hallo! Hier Welle Erdball“
(Mann:) Der Mensch benötigt, der Mensch bedarf.
(Frau:) Man braucht, um leben zu können…
(Mann:) Aus dem Statistischen Reichsamt, Aktenblatt, meldet sich der Maschinenmensch der Maschinenstadt. Es verlohnt sich, um seinetwillen ein wenig nachdenklich zu sein. Denn er lebt, wie wir – zum Schein für den Schein.
Das Hörspiel war mit Hilfe von Filmtonstreifen vorproduziert worden – zur damaligen Zeit ein revolutionäres Verfahren. Denn bis dahin waren Hörspiele immer Live produziert worden. Die neue Technik sollte völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen.
(Ansager:) Sie hörten ein Szene aus „Hallo! Hier Welle Erdball!“ von F.W. Bischoff. Sie wurde mit Hilfe von vier Schallplatten wiedergegeben. Der Übergang von einer Platte zur andern sollte unmerklich vor sich gehen.
Hörspiel „Hallo! Hier Welle Erdball“
Im April 1934 war es dann mit den akustischen Experimenten vorbei: Die Zeit des „Reichssenders Breslau“ begann. Aus der Schlesischen Funkstunde wurde ein nationalsozialistischer Propagandasender. An diese dunkle Zeit erinnert im Radiomuseum ein seltenes Exponat: das „Hitler“-Mikrofon. Das eiserne Tischmikrofon mit Rundum-Schwenkkopf diente 1936 dem deutschen Führer, als er in der Jahrhunderthalle von – damals – Breslau eine Rede hielt. Etliche der Rundfunkempfänger, die damals die Ansprache Hitlers in die Häuser der Menschen trugen, stehen inzwischen ebenfalls im Radiomuseum. Und einige große Megaphone. Tomasz Sikora erklärt, was es mit ihnen auf sich hat. Jede volle Stunde sei jemand mit einem solchen Megaphon durch die Stadt gefahren und hätte gerufen: „Jetzt die Nachrichten für die Breslauer!“ Dann hätten die Menschen ihre Fenster geöffnet, um die Neuigkeiten zu hören. „So funktionierte Rundfunk in der Nachkriegszeit, weil es keinen Strom gab.“
Tomasz Sikora und seine polnischen Kollegen von Radio Wroclaw ahnten lange Zeit nichts von der großen Hörspiel-Vergangenheit ihres Senders. Das Rundfunkarchiv war im Krieg verbrannt, und die deutschen Radiomacher waren nicht mehr im Land. Erst im Jahr 2015, erzählt Tomasz Sikora, hätte er von der Existenz des Hörspiels „Hallo! Hier Welle Erdball“ erfahren, das im Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main aufbewahrt wird. „Wir hatten hier in Wroclaw sogar so etwas wie Hörspiel- Quadrofonie,“ sagt Sikora nicht ohne Stolz. Er deutet auf zwei Radiogeräte, sie seien für Quadrofonie geeignet. „Aber in kommunistischen Zeiten konnte man das nicht produzieren, das war zu teuer und zu kompliziert. Man hatte Probleme mit Herstellung von Toilettenpapier – dann war Quadrofonie echt etwas vom Mars“.
Kulturhauptstadt Europas
Zu jener Zeit hätte sich niemand träumen lassen, dass Wroclaw eines Tages Kulturhauptstadt von Europa sein würde. Nach Ansicht des Osteuropa-Historikers Eduard Mühle ist diese Transformation das Ergebnis einer geschickten Stadtverwaltung. Unter Ausnutzung der verkehrsgünstigen Lage habe sie international konkurrenzfähige Wirtschaftsbetriebe angesiedelt. Dabei aber nicht nur auf neue Technologien gesetzt, sondern ebenso die Tourismus- und Kulturwirtschaft gefördert. Der politische und gesellschaftliche Neustart, so Eduard Mühle, habe der Stadt auch die Chance geboten, sich mit ihrer deutschen Vergangenheit auszusöhnen. „Wroclaw wurde lange politisch instrumentalisiert als Bollwerk gegen den vermeintlichen westdeutschen Revanchismus. Die Bewohner konnten sich nicht sicher sein, ob nicht im Rahmen eines neuen Friedensvertrages, der immer noch ausstand, Wroclaw vielleicht doch wieder deutsch werden würde. Solange diese Unsicherheit bestand, waren die Menschen nie richtig heimisch geworden in der Stadt.“ Erst nachdem 1991 mit dem Nachbarschaftsvertrag endgültig geklärt war, dass Breslau polnisch bleiben würde, hätten die Menschen sich auch auf die Stadt eingelassen, meint Eduard Mühle. Das hätte ihnen auch die Freiheit und die Möglichkeit gegeben, sich mit der deutschsprachigen Vergangenheit dieser Stadt zu beschäftigen.
Adam Chmielewski, Philosophieprofessor an der Universität von Wroclaw, hat im Auftrag der Stadtverwaltung die Bewerbung Wroclaws zur Europäische Kulturhauptstadt verfasst. Nach eigenen Worten schlug er darin auch vor, das Symbol der ehemaligen Orangen Alternative, den Zwerg, zum Symbol der Stadt zu erklären. Nachdem Wroclaw den Zuschlag als Kulturhauptstadt 2016 erhalten hatte, meint er, hätte sich dieser Vorschlag allerdings als Bumerang erwiesen. Waldemar Fydrych, der als „Vater“ der Zwerge gilt, verklagte die Stadt auf Schadensersatz dafür, dass die Stadt seine Ideen für Werbezwecke nutzen würde. Das Verfahren zog sich über mehrere Jahre hin, bis Fydrych schließlich eine Entschädigung zugesprochen wurde.
Auferstehung der Zwerge
In den Augen der Journalistin Agata Saraczynska gehört der Zwerg dagegen allen. Nicht zuletzt, sagt sie, weil die Idee für die erste Zwergenstatue in der Stadt nicht von Fydrych stamme, sondern von ihr selbst. „In den 90er Jahren schrieb ich in einem Artikel, dass nicht nur Warschau und Krakau, sondern auch die Stadt Wroclaw ein Wahrzeichen haben sollte. Und schlug dafür einen Zwerg vor, weil er mit der Idee der Orangen Alternative verbunden sei.“ Zusammen mit einer Freundin, der Chefredakteurin einer Zeitung, hätte sie einen Wettbewerb organisiert. In der Jury sei auch „Major“ Fydrich gesessen. „Der erste Zwerg in der Stadt ist also von uns beiden. Es ist der größte in der Fußgängerzone. Dieser Zwerg wurde illegal, ohne jegliche Genehmigung aufgestellt. Trotzdem steht er noch immer dort. Eine richtige Skulptur – nicht so ein Kitsch wie diese Zwerge, die inzwischen überall stehen.“
Das Ganze sei irgendwann aus dem Ruder gelaufen, sagt Philosophieprofessor Adam Chmielewski. Geschäftsleute hätten für sich Zwerge anfertigen lassen und sie vor ihre Schaufenster und Läden gestellt. „Dieser Zwerg spielte eine ungemein wichtige Rolle für die Menschen während der kommunistischen Zeiten, ist nun aber zu einem bloßen Marketingprodukt verkommen.“ Die meisten Touristen und sogar viele Einwohner ahnen nichts von der einstigen politischen und kulturellen Bedeutung der Zwerge. Adam Chmielewski gibt für dieses mangelnde Geschichtsbewusstsein der Stadtverwaltung die Schuld. „Waldemar Fydrych mit der Orangen Alternative und die politische Elite der Stadt zählten zu unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der Opposition gegen das kommunistische Regime. Unweigerlich stießen diese beiden Fraktionen zusammen, weil jede mehr als die andere zum Fall des Kommunismus beigetragen haben wollte.“
Hallo! Hier Welle Erdball!
Dem Journalisten Tomasz Sikora, dessen Frau deutsche Wurzeln hat, liegt vor allem am Herzen, auf Radio Wroclaw die deutsche Sprache zu pflegen, um auf diese Weise zur Verständigung zwischen Polen und Deutschen beizutragen. Jeden Sonntagabend macht der Redakteur ein Radioprogramm für die deutschsprachige Minderheit im Land, die seit einigen Jahren beständig wächst. Immer mehr Deutsche kommen, um in Niederschlesien zu arbeiten. Nicht nur für sie will Tomasz Sikora den Hörspiel-Klassiker „Hallo! Hier Welle Erdball“ in das Radiomuseum holen. An einem speziellen Sonntagabend will er dann auf Radio Wroclaw für eine halbe Stunde die Schlesische Funkstunde wieder auferstehen lassen.
(Mann:) Hallo! Hier Welle Erdball. Wer dort? Ein Ausschnitt nur, eine Momentaufnahme, aber so ist das Leben, liebe Dame! Das Leben kennt keine Logik, es springt mit uns um. Eins, zwei, drei… der Plumpssack geht um.
Hörspiel „Hallo! Hier Welle Erdball“
Der Text ist die gekürzte schriftliche Fassung meines Radiofeatures für den Schweizer Rundfunk SRF2 anlässlich der Ernennung von Wroclaw zur Europäischen Kulturhauptstadt 2016.