Vor 60 Jahren: Rettung von tschechischen Torarollen nach London
1564 Torarollen aus der Tschechoslowakei wurden am 5. Februar 1964 in die Westminster-Synagoge in London gebracht. Dort restauriert und an jüdische Gemeinden in der ganzen Welt als Dauerleihgabe weitergegeben. Den 60. Jahrestag ihrer Ankunft feierten die Westminster Synagogue und die Stiftung Memorial Scrolls Trust mit einem Festgottesdienst.
Sonntag, 4. Februar 2024: Festgottesdienst in der Westminster Synagoge in London. Die Anwesenden gedenken einem Ereignis, das fast auf den Tag genau 60 Jahre zurückliegt: Es war der 5. Februar 1964, als in der Westminster Synagoge 1564 Torarollen aus einer stillgelegten Synagoge in Prag eintrafen. Auf zwei Pritschenwagen hatten die heiligen Gesetzestexte halb Europa durchquert. Philippa Bernard erinnert sich noch genau, wie überwältigt alle waren.
Jede Torarolle war einzeln in Plastikfolie eingewickelt wie in ein Leichentuch. Ich war nicht die einzige, die dachte, dass sie wie Leichname aussähen. Dieses Gefühl verstärkte sich später noch, als die Torarollen ausgepackt waren, durch ihren Geruch. Meine erste Reaktion war: Das ist der Geruch des Todes.
Philippa Bernard
Die Torarollen kamen aus Böhmen-Mähren in der heutigen Tschechei. Die Region war im Zweiten Weltkrieg von Deutschland als Protektorat besetzt worden. Viele Juden waren bereits emigriert, als die deutschen Besatzer anordneten, alle Judaika an ein Museum in Prag abzugeben. Unter den mehr als 200.000 Gegenständen waren auch fast 2000 Torarollen. „Lange Zeit nahm man an, die Deutschen wollten ein Museum für eine ausgestorbene Rasse schaffen, wenn sie den Krieg gewonnen hatten,“ sagt Jeffrey Ohrenstein, der Vorsitzende des Memorial Scrolls Trust. Und fährt fort: In einer Publikation des Jüdischen Museums in Prag von 2012 werde jedoch behauptet, die Prager Juden hätten selbst für die Bewahrung dieses Erbes gesorgt. „Die Historiker in Yad Vashem debattieren darüber noch. Wir werden vielleicht nie erfahren, wie es wirklich war. Hauptsache ist, die Judaika haben überlebt“.
Der Memorial Scrolls Trust ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in London. Sie finanziert die Restaurierung der Torarollen, die nicht nur die Herrschaft der Nationalsozialisten überdauerten, sondern auch nach dem Zweiten Weltkrieg das kommunistische tschechoslowakische Regime. Anfang 1964 erwarb der Philanthrop und Mitbegründer der Westminster Synagoge, Ralph Yablon, die Torarollen und ließ sie nach London bringen. Die Stiftung richtete schließlich ein Museum im dritten Stock der Synagoge ein. Im Parterre liegt das Büro von Kamila Kopřivová. Die 33-Jährige ist in der Tschechoslowakei geboren und die erste und bis dato einzige tschechische Rabbinerin. „Wir haben eine tschechische Torarolle in unserer Synagoge hier, wir nehmen sie an jedem Schabbat heraus und lesen aus ihr. Ich denke sehr gern und oft an all die Hände der tschechischen Juden, die die Torarolle vor mir berührt haben. Und ich kann mich jetzt über die Torarolle – ihrem Erbe gewissermaßen – mit ihnen und ihrem Leben verbinden.“
Von den ursprünglich 1564 Torarollen liegen heute noch rund 150 in den Regalen des Museums. Die übrigen sind als Dauerleihgabe in alle Welt verschickt worden. Die meisten, rund 1000, in die USA. Nicht alle sind koscher. Doch auch nicht-koschere Torarollen können – entgegen eines Irrglaubens vor allem in orthodoxen Gemeinden – weiter verwendet werden. Jeffrey Ohrenstein: „Einige Rabbiner dachten, wenn eine Torarolle nicht koscher ist, muss sie vergraben werden. Das stimmt so aber nicht. Die Halacha besagt vielmehr, dass eine Torarolle, die keinen Nutzen mehr hat, vergraben werden muss. Eine tschechische Torarolle, die die Schoa überlebt hat, hat aber so viele sinnvolle Verwendungsmöglichkeiten. Im Gottesdienst. Im Schulunterricht. Oder zum Gedenken.
Benji Stanley, der 43-jährige Hauptrabbiner der Westminster Synagoge, stimmt dem von ganzem Herzen zu: „Ich liebe es, wenn Jugendliche ihre Bar oder Bat Mizwa haben. Ich sitze dann mit einem 11- oder 12-jährigen Jungen oder Mädchen und seinen Eltern zusammen. Und wir sprechen über die Passage in der Tora, die sie bei der Feier vorlesen werden, und welche Fragen sie für uns aufwirft. So prägen die Torarollen, die hier wieder zum Leben erweckt worden sind, nun das Leben von jungen Menschen zutiefst. Das ist wunderbar.“
Susanna Erber kann das bestätigen. Sie ist aus den USA zum Festgottesdienst angereist. Eigentlich wollte sie die Torarolle mitbringen, die ihrer Gemeinde anvertraut worden ist. Doch die wird bei einer Bat Mizvah gebraucht. „Unsere Torarolle stammt ganz aus der Nähe des Ortes, in dem meine Mutter geboren und aufgewachsen ist. Alle meine drei Töchter sangen bei ihrer Bat Mitzwa von dieser Torarolle.“ Dabei mache ihre Familie ein Ritual, erzählt Erber, bei dem sie die Rolle, beginnend mit der ältesten Person, von Generation zu Generation reichten – und schließlich dem Kind gäben. „Das ist sehr kraftvoll – vor allem, wenn man um die Herkunft der Torarolle weiß.“
Das Restaurieren der Torarollen ist eine Kunst und Wissenschaft für sich. Jeder der 304.805 Buchstaben der Tora muss in einer genau bestimmten Weise geschrieben werden. Und mit Tinte und Federkiel. Das Pergament, auf dem der Text geschrieben wird, muss aus der Haut eines koscheren Tieres gefertigt sein. Wenn die schwarze Farbe verblasst und erst braun und schließlich rot wird, gilt die Torarolle nicht mehr als koscher. Es gäbe 4000 verschiedene Regeln zu beachten, sagt Jeffrey Ohrenstein.
Susanna Erber beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit Torarollen. An manchen Stellen, meint die Amerikanerin, seien die Buchstaben unterschiedlich geschrieben oder gruppiert. „Oder sie haben ein Muster, das das Geschehen im Text widerspiegelt“. Als ein Beispiel nennt sie die Geschichte vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, wenn sich das Meer vor ihnen teilt. „Das ist mit einer Leerstelle dazwischen geschrieben – so als ob das Meer sich mit dem Land dazwischen teilt.“
Von den 1564 geretteten böhmisch-mährischen Torarollen sind lediglich zwei in ihre ursprüngliche Heimat zurück überführt worden. Rabbinerin Kamila Kopřivová stört sich daran ebenso wie viele andere tschechische Juden, meint sie. „Wir wissen natürlich, dass die Torarollen nicht überlebt hätten, wenn sie im Besitz der Kommunisten geblieben wären. Aber man sollte nicht nur in der Vergangenheit wühlen und Menschen verehren, die tot sind.“ Es sei wichtig, auch eine Verbindung zu lebenden Juden herzustellen. „Aber viele tschechische Gemeinden werden leider von den Gemeinden, die ihre Torarollen haben, nicht kontaktiert.“
Susanna Erber sieht die Torarollen als ein Symbol für das menschliche Überleben – und nicht nur das der Juden. „Menschen haben nicht nur überlebt: Sie sind wieder erblüht. Und diese Torarollen sind ein Symbol dafür. Allen, die in diesem Moment mit Krieg oder Unterdrückung leben, gibt das Hoffnung. Und das brauchen wir.“
Ein Live Stream des Festgottesdienstes ist auf der Homepage der Westminster Synagoge zu sehen oder auf YouTube. Ebenfalls auf der Webseite der Synagoge und auf YouTube ist ein Film über die Geschichte und Restauration der Torarollen.