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Als Berlin noch wirklich links war

Die Berliner Filmemacherin Renate Sami ist im Alter von 88 Jahren verstorben.

Die Berliner Filmemacherin Renate Sami ist tot.

Renate Sami ©privat

Renate Sami

Mai 1935 – 24.12.2023

Renate Sami hat die 68er ebenso miterlebt wie das bleierne Deutschland der 1970er Jahre. Und nicht nur miterlebt: Sie engagierte sich in linkspolitischen Kreisen. Sie war nicht nur Filmemacherin, sondern auch Darstellerin und Drehbuchautorin und kannte sich mit Kamera aus.

Die 1960er Jahre

Renate Sami war bereits 40, als sie das Filmen für sich entdeckte. In ihrem ersten Leben war sie Dolmetscherin und Übersetzerin und hatte Französisch, Englisch und Deutsch auch unterrichtet. Sie arbeitete an Übersetzungen mit, etwa bei dem 1968 erschienenen Band „Wo ist Vietnam?“ mit 89 amerikanischen Dichtern gegen den Krieg in Vietnam oder bei Jean Meynauds „Bericht über die Abschaffung der Demokratie in Griechenland“ (1969). In der tageszeitung beschrieb sie im Jahr 2008 ausführlich „ihr 68“ und, wie es in ihrem Leben in den 1970er Jahren weiterging.

Knast, die Rote Hilfe und ein Film über Holger Meins

Mai 1970: Bei einer Demonstration vor dem Amerika-Haus in West-Berlin werden auch Eier und Steine geworfen sowie Molotowcocktails. Der Anlass: Im US-Bundesstaat Ohio, auf dem Campus der Universität von Kent, hatten Studenten gegen den Vietnamkrieg protestiert, die Nationalgarde war aufmarschiert und hatte vier Studenten erschossen. Die Kunde davon ging in dieser Nacht dann auch in West-Berlin in allen Wohngemeinschaften herum. Spontan gingen ganz viele auf die Straße – Renate Sami natürlich auch. Stunden später und weit ab vom Amerika-Haus geriet sie in eine Polizeikontrolle. Da sie bereits bei einem anderen Anlass aufgefallen war, wurde sie festgenommen unter dem Verdacht, am Amerika-Haus menschengefährdende Brandstiftung begangen zu haben. Sei bliebe ein Jahr lang in Untersuchungshaft. In ihren eigenen Worten: „Immer in Einzelhaft. Die ersten Tage sind die schlimmsten. Man hält es nicht für möglich und will nur raus! Dann gewöhnt man sich daran. Seltsam eigentlich. Ich habe gelesen, gearbeitet, habe übersetzt. Also ich sehe das nicht so als Verlust an, dieses Jahr.“

1971, zur Haftprüfung, kam Renate Sami frei und schloss sich der linken „Roten Hilfe“ an. Der Verein unterstützte Menschen, die er als politische Gefangene ansah. Mittlerweile hatte sich die Rote Armee Fraktion (RAF) gegründet, einige waren auch bereits festgenommen. Einige gingen in Hungerstreik, worüber einige Leute einen Film machen wollten. Über sie kam Renate Sami erstmals mit Film in Kontakt. Im November 1974 starb Holger Meins, Mitglied der RAF, an den Folgen eines Hungerstreiks. Meins hatte in Hamburg und West-Berlin Film studiert. Daher beschloss eine Gruppe von jungen Leuten, die ebenfalls an der Film- und Fernsehakademie Berlin studierten, einen Film über Meins zu drehen. Aus dem Projekt wurde dann aber nichts, weil das Geld dafür fehlte. Renate Sami blieb dran. So entstand ihr Erstlingsfilm: „Es stirbt allerdings ein jeder… fragt sich nur wie und wie Du gelebt hast“ (1975). Ein Porträt von Holger Meins. In der taz, sagt sie mit kritischer Distanz:

„Er musste sich nicht zu Tode hungern. Er könnte heute leben, könnte frei sein. Aber es war ein solcher Gruppendruck, der da ausgeübt wurde. Dem Manfred Grashof, der seinen Hungerstreik mal abgebrochen hatte, dem haben sie ganz schreckliche Briefe geschrieben. Er hat dann auch wieder angefangen. Also das war ein unheimlicher Gruppendruck. Und Holger hat das alles sehr ernst genommen. Die Idee dahinter. Und ihr wisst ja inzwischen, dass [Andreas] Baader natürlich Hühnchen gegessen hat. Das wissen wir jetzt alle, nicht?“

Bei einer Schau von Renate Samis Filmen zu ihrem 80. Geburtstag im Kino Arsenal in Berlin am 25. und 26. Mai 2015 fehlte ihr Erstling: Vielleicht, so schreibt die Rezensentin in der taz, weil sich nach Holger Meins Tod Renate Samis Schaffen „etwas vom Politischen fortbewegt hat, Ästhetik und Poesie mehr in den Vordergrund gerückt sind, die Beschäftigung mit Literatur und Malerei. Oder Reisen.“

An Renate Samis Grab versammelten sich am 6. Februar 2024 nochmals viele ihrer Weggefährten – „das alte Berlin“. Damals, so würden die meisten von ihnen wohl sagen, als Berlin noch wirklich links war.

Nachruf einer Weggefährtin

Renate Sami war so hilfsbereit und sanft, wie es ihrer Migräne gut tat. Sie hatte immer ein schallendes Lachen, was mir bis heute in den Ohren klingt. Wir spielten Jahre lang Pingpong auf unterschiedlichen Straßen-Tischtennis-Plätzen. Wir hatten einen Tischtennis-Orte-Plan, wo wir einschätzen konnten, wann und wie lange die Sonne schien, und welche Windrichtung günstig für unsere Bälle waren. Im Winter wurde der Tisch vom Schnee und von der Nässe befreit. Es war immer ein spontanes Telefonat je nach Wetterlage.

Wir reisten zusammen nach Paris anlässlich der Premiere ihres Filmporträts über den Schriftsteller Cesare Pavese in der Cinematheque Francaise. Dort veranstaltete der Ethnologe und Regisseur Jean Rouch jeden März sein Ethnofilmfestival. In den 1990 Jahren konnten wir bei den Staatlichen Museen zu Berlin mit Wolfgang Davis ein ähnliches Konzept zehn Jahre lang “ kopieren“.

Renate und ich, schwer vom Heuschnupfen gebeutelt, reisten mit dem Auto nach Rom zu Remo Remottis „Kommune.GruppenLiebe auf der Sonnenterrasse. Zum Entsetzen des Filmregisseurs Harun Farocki tanzten wir auf dem Tresen im „Gottlieb“, der Kneipe am Kleistpark in Berlin, in der Harry Hund mit Glitzerjacket behauptete, „wir“ wären die kompetente Szene. Die Leute vom Rauch-Haus waren oft zugegen. Thomas Hengstenberg – der Photograph des berühmtesten „Kommune 1“-Bildes mit den nackten Pos – segelte zur Berlinale ein… Abschweifen ist so leicht beim Erinnern!

In der Nacht, als Holger Meins‘ Tod durchsickerte, trafen sich einige von uns bei „Kostas“ in der Grolmannstraße. Renate stand an die Holzwand vor dem großen runden Tisch gegenüber dem Tresen gelehnt. Ihr liefen die Tränen ganz still über ihre Wangen. Das war das einzige mal, dass ich sie weinen sah. Jetzt bei ihrer Beisetzung, auf dem Friedhof am Wilmersdorfer Krematorium, erinnerte ich mich an Fritz Teufels Beerdigung. Damals ging Ulrich Enzensberger mit dem Satz durch die Menge: „So sehen wir uns alle nicht wieder“!

Renate Sami starb mit 88 Jahren am 24. Dezember 2023. Weihnachtsabend. „Eine geht – ein anderer wird geboren“, hab ich mehrere Male gehört… Sie wird mir fehlen: ihre Unbeirrbarkeit in ihrer künstlerischen Arbeit, ihre Haltung dem Leben gegenüber, „pure brut“, ihr amoralischer Humor und eben ihre großzügige Hilfsbereitschaft.

Menschen sind unersetzbar!
Gute Reise

Annette C. Eckert, 7. Februar 2024


Für meinen Radiobeitrag „Die RAF im Film“ habe ich Renate Sami am 8. Juli 2007 über ihren Film und ihre persönlichen Eindrücke von Holger Meins interviewt. Hören Sie das Interview hier.

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