Somers: Am Nordufer des Flathead Lake. Auch flach hat seine Reize.
Nach Finley Point und dem grandiosen Ausblick auf den Flathead Lake bin ich erst einmal ernüchtert, als ich mich am anderen Ende des Sees, am Nordufer, wiederfinde. Ich wohne fünd Kilometer vom Örtchen Somers entfernt – in der Pampa, denke ich. Wenn ich hier aus dem Fenster schaue, sehe ich ein sehr flaches Tal und die Berge nur in der Ferne. Doch schnell entdecke ich, dass flach auch seine Reize hat.
Und das Beste: Endlich habe ich die vierpfotige Kuschelpartnerin, um die ich meinen Nachbarn in Columbia Falls beneidet hatte. Sie heißt Tabby und ist eine schwarz-weiße Schönheit. Sie bringt mich zum Lachen – mit ihrem hartnäckigen lauten Miauen, wenn sie meine Aufmerksamkeit will, und mit ihrem kurzen Grunzen, wenn sie zufrieden ist. Wir haben den ganzen Tag etwas miteinander zu reden. Sie leistet mir Gesellschaft, während ich am Notebook tippe, bei meinen Gymnastikübungen und beim Faulenzen auf dem Sofa.
Ich warte auf Schnee, wollte ich mich doch im Schneeschuhwandern und im Skilanglauf üben. Doch Schnee stellt sich hier am See nur für jeweils wenige Tage ein. Ich drehe eine Runde mit dem Fahrrad, das ich mir leihe. Eine dumme Idee, wie sich herausstellt, denn die ungepflasterten Straßen in der Nachbarschaft sind schlammig, und ich muss anschließend nicht nur das Rad mit dem Gartenschlauch abspritzen, sondern auch meine Jeans und sogar meine Fleecejacke in die Waschmaschine stecken.
Also fahre ich mit dem Auto die fünf Kilometer an den Flathead Lake. Überraschend breitet sich vor mir ein Sandstrand aus, der mich im Kopf ans Meer versetzt. Das Südufer des Sees ist von hier aus nicht zu sehen. Möwen kreischen. Wer die Ausdauer hat, kann am Strand neun Kilometer bis zum Flathead River spazieren. Die Saison dafür ist allerdings kurz und dauert nur, solange der Wasserstand niedrig ist, das heißt vom Spätherbst bis zur Schneeschmelze im Frühjahr. Als es doch noch etwas schneit, verwandeln sich die Minipfützen zu einer spiegelglatten Oberfläche, bedeckt nur von einer hauchdünnen Schicht Schnee. Weil ich früher bereits auf Eis ausgerutscht bin und meine beiden Handgelenke gebrochen habe, mein rechtes vor einem Jahr in South Dakota, bewege ich mich vorsichtig. Die Berge am Horizont sind im diesigen Gegenlicht überhaupt nicht zu erkennen.
Wie am Südende des Flathead Lake, im Mission Valley um Polson, gibt es auch hier im nördlichen Flathead Valley eine rege Musikszene. Wir gehen in Whitefish tanzen. Die Stadt ist der Hub und Touristenmagnet der Region. Für den alljährlichen Christmas Stroll, eine Mischung aus Weihnachtsmarkt und Karnevalsparade, sperrt die Stadt für einen Abend die Central Avenue. Bäume und Straßen sind festlich beleuchtet, in der Innenstadt drängen sich die Menschen. Ein riesiges Community-Fest. Mit Tanzvorführungen, Live-Musik, Marsh Mellow-Rösten, einem Lebkuchen-Wettbewerb, Axtwerfen und „Truthahn-Kegeln“: Ein gefrorener Truthahn dient als Bowlingkugel und zehn mit Flüssigkeit gefüllte Plastikflaschen als Kegeln. Der Truthahn wird auf einer glatten Oberfläche wie Eis oder einer mit Seife beschmierten Malerfolie gekegelt. Nichts für Tierliebhaber und Vegetarier.
In einem Liquer Shop entdecke ich „echten“ importierten Christkindlesmarkt-Glühwein aus Nürnberg, meiner Heimatstadt. Außerdem einen Heidelbeer-Likör aus der Glacier Distilling Company, einer Destillerie vor den Toren des Glacier Nationalparks in Coram, rund 40 Autominuten von Somers entfernt. Dort, weiter nördlich, liegt schon Schnee. Auch am Ostufer des Flathead Lake sehe ich Schnee, nahe des Städtchens Bigfork, wo die Berge ihren Aufstieg beginnen.
In der Adventszeit und zur Jahreswende ist viel los rund um den Flathead Lake. Zum 21. Dezember, der längsten Nacht des Jahres, gibt es ein 24-Stunden-langes Mantra-Singen. Und etliche Wintersonnwendfeuer – sowohl am nördlichen Seeufer im Flathead Valley als auch im südlichen Mission Valley.
Am Silvesterabend endet das Jahr 2023 dann nahe der Stadt Whitefish mit der traditionellen „Fackelschein-Parade“ am Big Bear Skiresort: Begleitet von der Musik eines Live-DJ erhellen mehr als 200 Skifahrer und Snowboarder die Nacht, wenn sie im Dunkeln mit Fackeln den Berg hinunterfahren. Ein faszinierendes Spektakel, das hunderte Schaulustige entlang der Piste, vom Tal oder der Stadt aus beobachten.
Und schon ist 2024: Am Neujahrstag stürzen sich ein paar Dutzend Wagemutige in Wood Bay beim Polar Bear Plunge (Eisbär-Eintauchen) in den sehr, sehr kalten Flathead Lake. Ich beschließe, es nächstes Neujahr auch zu wagen.
Auf nächstes Jahr muss ich auch die jährliche Disco Dance Night in Whitefish verschieben. Sie werde ich leider ebenso verpassen wie – bereits zum zweiten Mal – eine Fahrt zum Blackfeet Reservat. Denn es wird Zeit, meinen Koffer zu packen. Mein Rückflug nach Berlin steht an. Mit der Gewissheit „Ich komme wieder“ steige ich um 22:30 Uhr in den Nachtzug nach Seattle im Nachbarstaat Washington. Der Zug fährt pünktlich ab. Ein gutes Omen.
Als ich am nächsten Morgen, leicht gerädert, im Zug auf der Sitzbank aufwache, bekomme ich eine MMS: Die Häuser am Flathead Lake liegen unter einer weißen Flockendecke. Endlich schneit es in Montana! Und ich werde in wenigen Stunden in Seattle ankommen…