Am südlichen Ufer des Flathead Lake: Finley Point. Naturparadies.
Immer noch im Nordwesten Montanas, der es mir angetan hat. Genauer gesagt, bin ich in der Nähe von Polson, am südlichen Rand des Flathead Lake – der Bodensee Montanas. Mein Aufenthalt neigt sich dem Ende zu. Doch ich bekomme noch zwei wunderschöne Abschiedsgeschenke.
Gestern Abend war wieder ein „Alpenglühen“, wie ich es bereits in der Nähe von Columbia Falls erlebt hatte: Der Himmel nimmt ein Bad in pinken bis lila Farbtönen. Im Westen leuchtete er wie glühendes Eisen. Zudem war Vollmond.
Ich bin am Finley Point, einer Landzunge am östlichen Seeufer. Vom Wohnzimmer aus kann ich direkt auf den Flathead Lake sehen. Mein Lieblingsplatz ist das Sofa, von hier aus beobachte ich, wie sich der See, das Wasser, die Wellen je nach Wetter veränderten. Ruhig oder rauh, freundlich-warm oder gräulich-kalt. Jeden Tag ein anderes Bild. Manchmal bin ich vom Anblick geradezu überwältigt. Zum Beispiel, wenn sich am späten Nachmittag die Sonnenstrahlen golden auf die Bergspitzen setzen. Sogar bei Regen und Nebel gibt mir der Blick über die Wasserfläche hinüber ans nördliche Ufer, dort, wo die Rocky Mountains des Glacier Nationalparks sich erheben, ein Gefühl von Weite, Freiheit, Hoffnung. Energie. Mentale Anregung zum Arbeiten am Notebook. Ich kann frei atmen. Am Anfang war allerdings ein Schmerz, als Charlotte, die sanfte Hündin mit den traurigen Augen, eingeschläfert wurde. Ihre Besitzer hatten ihre Reise nicht mehr verschieben können, also blieb es an mir, sie zur Operation in die Klinik zu bringen, bei der wir alle hofften, der Arzt möge nur Gutartiges finden. Leider kam es anders. Ich sehe immer noch Charlotte vor mir, wie sie mir nachblickte, als ich sie in der Tierklinik zurückließ. Wenn ich die Wege gehe, die ich mit ihr und wenn auch nur wenige Male gelaufen war, überfällt mich noch immer des öfteren die Traurigkeit.
Da die meisten Häuser hier am Finley Point in der Off-Saison nicht bewohnt sind, habe ich freie Bahn. Ich kann die Privatwege entlang laufen, kann bis zum Ende der Bootsanlegestellen gehen, das Wasser dort glucksen hören und über die Wasserfläche auf die Insel in der Mitte des Sees blicken. Jeden Tag mache ich mich auf den Weg, um wieder was Neues zu entdecken. Schlendere den Kieselsteinstrand entlang. Klettere die Klippen hinauf und auf der anderen Seite zu einer kleinen Badbucht hinunter. Auf einer Klippe steht einsam eine Bank. Eine ist zum Winterschlaf auf die Lehne gekippt worden, ihre gußeisernen Füße recken sich wie Fühler in die Luft. Bei schönem Wetter ist es auch jetzt im November mittags noch so warm gewesen, dass ich an meiner Lieblingsstelle, einem Felsenvorsprung, sitzend, die Augen geschlossen, in der Sonne tagträumen konnte. Was für ein Luxus.
Der Flathead Lake im Nordwesten Montanas ist fast so groß wie der Bodensee und der größte Süßwassersee westlich des Mississippi. Die südliche Seehälfte, und somit auch Finley Point, liegt im Reservat der Konföderierten Salish und Kootenai Stämme. Über sie wurde mir erzählt, sie würden sehr clever ihre jungen Leute ins College schicken und dann in den stammeseigenen zwei sehr erfolgreichen IT- und Elektrounternehmen beschäftigen. Die Stammesverwaltung kontrolliert zudem den Staudamm, mit dem der Wasserspiegel des Flathead Lake geregelt wird. Weil die Stämme keine Jagd auf ihrem Reservat erlauben, ist das Rotwild so zahm, dass manche Tiere sich bis auf Armeslänge heranwagen. Kein Spaziergang und keine Autofahrt, ohne dass ich mindestens ein Dutzend Rehe und Hirsche sehe.
Rund um den Flathead Lake wachsen in unzähligen Kirschbaum-Plantagen die bekannten großen saftigen Flathead-Kirschen. Ich kam für sie leider zwei Monate zu spät. Der Herbst lässt mich nur noch die orangefarbene Blätter entlang des Sees bestaunen. Und das auch nur die ersten paar Tage, denn dann wird es plötzlich kalt und die Landschaft verwandelt sich – eine Woche lang – in einen Winter-Märchenwald.
Die gesamte Gegend um den Flathead Lake ist sommers wie winters ein beliebtes Touristenziel: Man kann wandern, schwimmen, Boot fahren und Wasserski. Oder im Winter sich Schneeschuhe anschnallen, die Berge beim Skilanglauf genießen oder sich in einer heißen Quelle vergnügen. Das Skigebiet nördlich des Sees mit den Kleinstädten Kalispell und Whitefish ist eine Autostunde entfernt, der Glacier Nationalpark nur eine halbe Autostunde weiter. Das Städtchen Polson hier am südlichen Seeende ist weniger touristisch. Viele ziehen von Kalispell und Whitefish hierher, weil die Mieten und Immobilienpreise günstiger sind.
In der Good Coffee Roasting Company, einem Cafe in der Main Street, kaufe ich jede Woche ein Vollkorn-Sauerteigbrot, das aus einem Backofen in Deutschland kommen könnte. Und in „Mrs. Wonderful’s Cafe„, einem heimeligen, italienisch angehauchten Restaurant, kann man in Bioqualität speisen. „Mrs. Wonderful“, Mary Frances Caselli, die Inhaberin, ließ es sich nicht nehmen, während der Corona-Zeit auch Nichtgeimpfte zu bedienen.
Und dann, gute 20 Kilometer weiter südlich, gibt es im Nachbarort Ronan noch das Red Poppy (Roter Mohn). Früher der Sitz des lokalen Kunstvereins, ist hier jetzt die Western Montana Musicians Cooperative zu Hause. Eine von nur einer Handvoll vergleichbarer Musiker-Kooperativen in den USA. Ich lese davon im Missoulian, der lokalen Wochenzeitung. Und dass die Kooperative Anfang November im Red Poppy ihr vierjähriges Jubiläum feiern wird. Da gehe ich natürlich hin.
Vor Ort staune ich nicht schlecht: statt einer kleinen Off-Bühne finde ich einen Saal mit hochwertiger Bühnenausstattung. An den Wänden neben der altmodischen Bar hängen jede Menge alter Vinyl-Schallplatten, Plattencover und schwarz-weiß Fotos von berühmten Musikern.
Die Instrumente auf der Bühne reichen von Gitarre über Drums, Keyboard bis Geige und Banjo – von Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert.Vor allem Nachwuchsmusiker sollen so die Chance zum Üben erhalten. Doch auch Profis proben hier. Am Wochenende ist die Bühne frei für Amateurbands und Jams, bei denen schon mal 80-Jährige Vollblutmusiker mit jungen Talenten musizieren. Das Konzept geht offenbar auf: Bei der Jubiläumsfeier haben lokale Geschäftsleute und Privatpersonen ihre Spendierhosen an. Mehr als einmal verkündet der Moderator, es seien wieder 1000 Dollar gespendet worden. Demnächst will das Kollektiv Musik-, Sing- und Tanzkurse anbieten.
Die Atmosphäre ist locker, die meisten Leute kennen einander. Der Saal ist bis in den späten Abend hinein voll besetzt. Deswegen werden sogar auf die Tanzfläche Stühle gestellt. Leider. Denn das lässt uns weniger Platz zum Tanzen. Wir lassen uns die Freude davon nicht nehmen, tanzen ausgelassen – über unseren Köpfen eine 70er Jahre Discokugel. Wie habe ich seit Berlin das Tanzen vermisst!
Die Bands, die von 15 Uhr bis nach Mitternacht spielen, sind alle Profis. Der Gitarrist Don Techner spielt seit den 1970er Jahren mit dem weltberühmten Sänger Rod Steward. Ebenfalls ein alter Bühnenhase ist der Bluesmusiker Andre Floyd. Er begleitet an diesem Abend für einen Song die Band „Highway 93“ (benannt nach dem Highway, der entlang des westlichen Ufers des Flathead Lake geht). Deren junger Frontmann, Joe Martinez, mit der kehligen Stimme, hat im Red Poppy erst einmal das Gitarrespielen gelernt. Jetzt ist er überall gefragt.
Die Überraschung des Abends sind für mich jedoch die Frontfrauen zweier Bands. Was für Stimmen! Die Sängerin von „Mojo Rising“ klingt wie eine Wiedergeburt von Janis Joplin. Und die Frontfrau von „National Remedy“ mit den taillenlangen Dreadlocks könnte es locker mit Amy Winehouse aufnehmen.
Zum Abschluss kamen diejenigen Musiker und Musikerinnen, die es bis dahin ausgehalten hatten, noch für eine Jam-Session zusammen. Unter ihnen eine Schlagzeugerin (!). Und das Wochenende darauf war ich dann, dieses Mal in Polson, wieder unter einer Discokugel tanzen.