Muslimische Welt Politik

Machos oder arme Würstchen?

Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft.

Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft.

Nach den Krawallen in der Silvesternacht 2022/23 nannte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz muslimische junge Männer „kleine Paschas“. Dafür musste er heftige Schelte einstecken. Die jüngsten Hass geschwängerten Anti-Israel-Demonstrationen zeigen, wie harmlos Merz‘ Begriff war. In einem Radiofeature von 2007 fand ich einen ganz anderen Vergleich… Der Text macht die Versäumnisse der letzten 15 Jahre deutlich.

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Bioware ©Rebecca Hillauer

(Manuskript von 2007 in Schriftsprache umgewandelt und leicht gekürzt)

Der Vernünftige

„Ich bin nicht so einer, der gleich eine Schlägerei macht. Ich bin mehr der Zurückhaltende.“ Kenan (Name geändert) ist 17, lebt in Berlin-Kreuzberg und besucht zur Zeit eine berufsvorbereitende Schule. Der junge Deutschtürke möchte Bürokaufmann werden, hat aber noch keinen Ausbildungsplatz. Deshalb will er seinen Realschulabschluss machen, um seine Chancen auf dem Ausbildungsmarkt zu erhöhen. Möglichen Schlägereien geht er aus dem Weg. So wie gestern etwa, als er am Anhalter Bahnhof auf den Bus wartete, und eine Gruppe junger Araber ihn provozieren wollte. „Die Vier haben arabische Ausdrücke gesagt und mich von Ferne beleidigt. Zwei wollten auf mich zukommen. Da ist der Bus gekommen, und ich bin eingestiegen und habe so getan, als hätte ich die nicht gesehen. Ich habe schon mal Schläge bekommen, daraus habe ich gelernt.“

Viele Lehrer würden sich einen so vernünftigen Jungen wie Kenan in ihrer Klasse wünschen. Doch er gehört zu den Ausnahmen: Nicht nur in der Rütli-Schule in Neukölln sind es meist türkische und arabische Jungen, die die „Problemfälle“ stellen. Sie verabschieden sich innerlich von der Schule und lassen ihren Frust an Lehrern und Mitschülern aus. Die türkischstämmige Soziologin Necla Kelek wundert das nicht: “Wenn ich bedient werde zu Hause, weil ich ein Junge bin – und damit lerne, dass ich von Natur aus was Besonderes bin und eigentlich gar nicht so viel leisten muss. Mir wird ja gehorcht. Was hilft mir das? Abstrakte Dinge zu begreifen, Disziplin und Ordnung – das lernen sie nicht. Deshalb scheitern sie.“

Verlierer der modernen Gesellschaft

Necla Kelek sieht in den jungen Machos die potentiellen Verlierer der modernen Gesellschaft. Sie bilden das Schlusslicht bei den Schulnoten, und nach Schulabgang erwartet sie eine „Karriere“ als Hartz IV-Empfänger. Eigentlich bräuchten die jungen Männer positive Vorbilder, um ihr Leben in die Hand zu nehmen, meint Kelek. Doch die traditionelle Erziehung vieler Eltern bewirke oft das Gegenteil. „In einer muslimisch-türkischen Familie ist das Familienoberhaupt, der Vater, eine Respektsperson, nach deren Vorstellungen und Wünschen ich mich zu richten habe. Er sagt, diese Pflicht komme von Gott. Indem er eine Familie gegründet habe, hätte er Gott versprochen, seine Familie so zu erziehen, dass sie nach Gottes Gesetzen lebt.“

Diesem Familiengesetz des absoluten Gehorsams müssen sich nicht nur die Töchter unterwerfen, sondern auch die Söhne. Denn sie sollen eines Tages in die Fußstapfen ihres Vaters treten. Der Pädagoge Ahmet Toprak hat untersucht, wie sich diese autoritäre Erziehung auf die Sozialisation der Jungen auswirkt. Er befragte junge Männer der zweiten Generation, die Mädchen aus den Heimatdörfern ihrer Eltern in der Türkei geheiratet hatten, nach ihrer Einstellung zu Ehe, Liebe und Sexualität. Über etliche Antworten war der türkischstämmige Migrationsforscher selbst überrascht: „Was ich auch nicht so kannte war, dass die Männer auch zur Ehe gezwungen werden – und dass sie sich dagegen nicht wehren oder nicht wehren können.“ Die Söhne seien in der Regel sehr stark nach außen orientiert, sie kämen nicht nach Hause, machten, was sie wollten. „Und die Eltern wollen mit einer Eheschließung die Söhne disziplinieren, damit sie ruhiger werden und dann vielleicht ein geregeltes Leben führen.“

Die Erkenntnisse von Ahmet Toprak und Necla Kelek lassen türkisch-muslimische Jungen und Männer in einem ungewohnten Licht erscheinen: Bei Necla Kelek sind sie – laut Buchtitel – „Die verlorenen Söhne“, bei Ahmet Toprak „Das schwache Geschlecht“. Der Grund laut Autor: Diese Männer haben vor der Ehe Erfahrungen mit anderen Mädchen gemacht, seien es türkische, arabische oder deutsche. Diese Mädchen waren ihnen aber zu selbstbewusst. Also fahren sie in die Heimat Ihrer Eltern und heiraten dort ein junges Mädchen, von dem sie denken, dass es sich nicht wehren und dann machen wird, was sie sagen.“

Deshalb also „Das schwache Geschlecht“. Muslimische Männer – auf den ersten Blick ausgemachte Machos, auf den zweiten Blick bedauernswerte Schwächlinge? Arme Würstchen? Kenan grinst. “Das stimmt eigentlich. Ich höre auch immer auf meinen Vater. Wenn er sagt, du musst das machen, du musst dies machen – dann muss ich das auch machen“, erklärt der junge Mann mit entwaffnender Offenheit. Und auch der Vater hätte bereits auf seinen Vater gehört und so weiter. „Mein Cousin er ist 23, er gammelt nur herum, seit Jahren schon. Er ist zufrieden. Seine Eltern zahlen die Miete. Er ist der King zu Hause.“

Das neue Buch meines Interviewpartners in diesem Text, des türkischstämmigen Erziehungswissenschaftlers Ahmet Toprak:

Die privilegierte Position der Söhne innerhalb der Familie fördert nicht nur Bequemlichkeit und einen Hang zur Selbstüberschätzung, sondern auch eine fatale Abhängigkeit. Necla Kelek spricht von „Daseinsschuld“. Die Söhne seien ihren Eltern gegenüber ein Leben lang zu Dank verpflichtet – und Folgsamkeit. „Wenn einer das durchbricht und ausbricht und geht, lebt er in Schuldgefühlen, die unerträglich sind.“ Kelek will den Jugendlichen stattdessen klar machen: Nein, du gehörst dir selbst. Schau, was du aus deinem Leben machen kannst. Dann wird dein Vater stolz auf dich sein.“

Gesetz des Stärkeren

Doch noch immer setzen viele Migranten-Väter den geforderten Gehorsam durch – notfalls mit Schlägen. Auch Söhne der dritten Generation haben dieses „Gesetz des Stärkeren“ verinnerlicht und fordern es später von ihren eignen Kindern, Söhnen und Töchtern, ein. In den nach traditionellem Muster arrangierten Ehen spielten Gefühle wie Verliebtsein, Liebe und Zärtlichkeit keine Rolle, sagt der Pädagoge Ahmet Toprak. „Es geht in erster Linie um den sexuellen Trieb des Mannes – und die Frau hat auch nicht ‚Nein‘ zu sagen. Ich habe diese Sexualakte in den meisten Fällen als Vergewaltigung interpretiert.“ Die Männer, so Toprak, hätten in dem Kontext kein Unrechtsbewusstsein. Auch nicht in Bezug auf andere Gewaltanwendung,weil sie dächten: Das ist meine Frau. „Das heißt auch: Die gehört mir, und ich kann mit ihr machen, was ich möchte.“

Für den jungen Kenan kommt eine arrangierte Ehe nicht in Frage. Seine spätere Ehefrau müsse auch keine Jungfrau mehr sein, beteuert er. Obwohl er von seinen Eltern ebenfalls Schläge bekam, will er seine eigenen Kinder einmal gewaltfrei erziehen. Nach dem Ehrenmord an der jungen Kurdin Hatün Sürücü im Jahr 2005 in Berlin bewies Kenan Zivilcourage. Er stand Modell für die Postkartenaktion „Ehre ist – für die Freiheit meiner Schwester zu kämpfen“. So wichtig er die Aktion findet: Seiner Ansicht nach wird sich dadurch in den Köpfen gleichaltriger Geschlechtsgenossen nicht wirklich etwas ändern. „Man muss es erst mal die Eltern überzeugen, danach werden die schon mit den Kindern und Jugendlichen reden“, meint er. Auf einen 17 Jahre alten Jungen wie ihn würde niemand hören. „Der Hodscha von der Moschee oder der Imam, Geschäftsmänner, Leute, die studiert haben – sie seien diejenigen, die von jungen Männern als Autoritätsperson akzeptiert werden.“

Umgang mit Autorität

Doch vor allem gebildete und gut verdienende Migranten, denen die Jugendlichen nacheifern könnten, kehren den Problemvierteln den Rücken. Sie fehlen als Vorbilder auch an den Schulen, denn noch gibt es wenige Lehrkräfte mit Migrationshintergrund. Und deutsche Lehrer und insbesondere Lehrerinnen werden von den jungen Männern nicht akzeptiert. Er sei genauso, sagt Kenan: “Wenn ich zum Beispiel einen deutschen Lehrer habe, bin ich locker. Aber wenn ich sehe, dass er ein Türke ist, dann versuche ich, keinen Fehler zu machen. Bei den Deutschen ist das nicht so schlimm, wenn ein Junge so ein bisschen stört. Bei den Türken ist das nicht so. Die sagen: ‚Unverschämt‘. Man schämt sich dann. Die Deutschen akzeptieren immer alles. Die Türken nicht.“

Der Umgang mit Autorität ist offenbar ein Kernproblem, wenn es um die Erziehung junger Muslime geht. Auch Sozialarbeiter Raafat Matar vom Arbeitskreis Neue Erziehung ist zu dieser Schlussfolgerung gelangt. Seiner Erfahrung nach nutzen viele junge Männer die Freiheiten, die das demokratische System in Deutschland bietet, aus. „Sie wissen, dass sie die Lehrer sogar anschreien können – und ungestraft davonkommen. Ihnen werden einfach keine Grenzen gezeigt. Jemand müsste sagen „Stopp, das läuft hier nicht“, meint Matar. Und ein Schulverweis dürfe nicht bedeuten, dass ein Schüler zu Hause vor dem Fernseher sitzt. „Er muss einer Verpflichtung, einer Art Sozialarbeit nachgehen.“

Um solche Disziplinierungsmaßnahmen durchzusetzen, braucht es auch die Unterstützung der Eltern. Insbesondere der Väter. Raafat Matar leitet seit einem Jahr eine arabische Vätergruppe in Kreuzberg. Anfangs war der gebürtige Ägypter selbst skeptisch: Arabische Väter hätten gewöhnlich feste Vorstellungen von Erziehung, in die sich nicht hineinreden ließen. Sie sähen daher wenig Veranlassung, sich mit Erziehungsfragen zu beschäftigen. Der Sozialarbeiter holte kurzerhand die Arabische Eltern-Union als Kooperationspartner mit ins Boot. Mit Erfolg: Der Name allein, und dass die Gruppe von zwei arabischen Fachkräften geleitet würde das Vertrauen der Väter erwecken, meint Matar. „Dann habe ich noch ein großes Fest gemacht. Inzwischen hat die Gruppe sich etabliert. Alle vierzehn Tage kommen zwischen acht bis zwölf Väter.“

Vätergruppe

Diskutiert wird in der Väter-Gruppe nicht nur über Erziehungsfragen und Probleme mit der Aufenthaltsgenehmigung, sondern auch über die eigene, sich verändernde Rolle in der Familie. Viele Väter, die in ihren Herkunftsländern traditionsgemäß die Ernährer der Familie waren, sind in Deutschland arbeitslos. Sie sitzen zu Hause, während ihre Söhne und Töchter oder ihre Ehefrauen arbeiten gehen. Einer von ihnen ist Tarek Abu Fattah (Name geändert). Vor sechzehn Jahren flüchtete der Palästinenser nach Deutschland. Seitdem er mit einer Abriss- und Reinigungsfirma Schiffbruch erlitt, ist der 48jährige zweifache Vater arbeitslos.

„Nachdem wir hier angekommen waren, sind die Kinder in die Schule gegangen. Nach zwei Jahre konnten sie Deutsch lesen und sprechen und schreiben. Dann haben sie für ihren Vater Briefe oder Papiere übersetzt. Und irgendwann haben sie gemerkt, der Vater kann die Sprache nicht. Wenn ein Brief von der Schule kam, konnten sie übersetzen, wie sie wollten. Und mit der Zeit hat der Vater gemerkt, dass er muss was tun.“ So beschreibt Tarek Abu Fattah seinen eigenen Lernprozess. Dass alle Migranten und Migrantinnen mit mangelnden Deutschkenntnissen Sprachkurse besuchen müssen, hat in seinen Augen wesentlich dazu beigetragen, das Selbstwertgefühl der Väter und ihren Status innerhalb der Familie wieder zu stärken. „Einige Väter haben einen Computerkurs gemacht, damit sie mit ihren Kindern Schritt halten können.“

Unkenntnis ist meist auch der Grund, warum sich Eltern nicht um die schulische Erziehung ihrer Kinder kümmern. Zumal es in vielen islamisch geprägten Ländern an Schulen überhaut keine Elternvertretung gibt. Eine Mitarbeit der Eltern ist oft sogar von Schulleitung und Lehrern ausdrücklich unerwünscht, da sie sich selbst als zweite Erziehungsinstanz nach den Eltern verstehen. „Die meisten Eltern haben keine Erfahrung, wie die Welt hier in Deutschland funktioniert. Sie brauchen in der ersten Zeit wirklich, dass man sie an der Hand nimmt und ihnen zeigt: Das Leben in Deutschland läuft so und so – und nicht wie im Libanon oder wie in Ägypten“, fasst Rafaat Matar seine Erfahrungen mit der Vätergruppe zusammen.

Tarek Abu Fattah macht anderen Väter Mut, sich auf neue Erfahrungen auch als Mann einzulassen: „In meinem Heimatland der Mann geht arbeiten, und mit dem Haushalt hat er nichts zu tun, weil alle Frauen dort helfen einander. Hier in Deutschland fehlt die Tante und die Schwester und die Mutter. Und deshalb muss der Mann für die Ehefrau da sein. Und da helfe ich ihr gern. Beim Kochen, beim Staubsaugen. Das bedeutet nicht, dass die Achtung ist verloren bei die Frau, oder Mann sagt, ich fühle mich erniedrigt – überhaupt nicht. Ich fühle mich sehr hilfsbereit und ich fühle mich stolz auch, das zu tun.“

Umdenken müssen alle

Umdenken müssen nicht nur die Eltern: Auch die deutschen Behörden und Pädagogen sind in der Pflicht. Allzu oft scheitert eine solche Zusammenarbeit an den mangelnden Deutschkenntnissen der Migranteneltern. Die Soziologin Necla Kelek hält mehr muttersprachliches Personal zwar für wünschenswert, aber nicht für die Lösung des Problems. „Ich sehe aus dem Blickwinkel der Migranten auf die deutsche Gesellschaft und sehe dabei, dass diese Migranten auch Verantwortung tragen. Bis jetzt ist ja so die Vorstellung, Migranten kommen aus armen Ländern, und arme Menschen bedürfen halt Hilfe.“ Nach Ansicht von Necla Kelek unterstützen muttersprachliche Angebote die Passivität von Migranten. Ihrer Ansicht nach sind Deutschkenntnisse die zwingende Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration.

Da viele bildungsferne Migranteneltern jedoch wenig oder gar kein Deutsch sprechen, können sie ihren Kindern darin kein Vorbild sein. Integrationsarbeit müsse daher bereits vor der Einschulung in den Kindertagesstätten beginnen, sagt Eren Ünsal. Die Vorsitzende des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg hofft auf einen Synergieeffekt: „Eltern entwickeln sich an den Reibungen mit ihren Kindern. Die zweite Generation von Migranten hier in Deutschland kann meterweise Bücher darüber schreiben. Weil Kinder natürlich auch die Schritte weiter gehen müssen, den Eltern nicht gehen konnten. Und die Eltern gehen entweder mit oder wenden sich ab. Viele zumindest der ersten Generation haben unglaubliche Entwicklungen gemacht. Wenn ich bedenke, wo meine Eltern waren, als sie kamen, vom Denken her – und wo sie heute sind: Dazwischen sind Lichtjahre.“

Necla Kelek appelliert an die deutsche Gesellschaft, endlich aufzuwachen. So wie die Eltern ihre Kinder müsse auch die Mehrheitsgesellschaft ihre Minderheiten in die Mündigkeit entlassen. Es sei Zeit, sie endlich als gleichberechtigte Partner ins Boot zu holen – mit allen Rechten und Pflichten. Immerhin würden sie auch von der deutschen Mehrheitsgesellschaft immer massive Zugeständnisse an die eigene muslimische Kultur fordern. „Die Antwort der Gesellschaft bis jetzt ist, dass sie sagen: Das ist ihre Kultur, das andere schaffen sie nicht. Man bestätigt sie also darin. Geht auf sie ein und baut für sie Moscheen, wodurch diese Kultur gesellschaftsfähig wird. In dieser Konstellation sehe ich, dass die Söhne, die dort hinein geboren werden, keine Chance haben, je aus diesem Milieu heraus zu kommen. Mit einem schlechten Abgangszeugnis haben sie keine andere Wahl, als eine Importbraut aus der Türkei zu heiraten und ihr soziales Elend zu reproduzieren.“

Wer glaubt, muslimischen Jugendliche würden dafür die deutsche Gesellschaft verantwortlich machen, irrt. Das meint zumindest Kenan. „Alle Jugendlichen sagen, das ist meine Schuld. Ich kriege sowieso keine Arbeit. Man sagt nicht: weil ich als Türke diskriminiert werde. Sie sagen: Das ist, weil ich nichts aus meinem Leben gemacht habe. Alle sagen: Hätte ich doch lieber gelernt. Mit 18 bin ich schon zu spät.“

Kinder: die Eltern von morgen

Eren Ünsal vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg sieht in den Kindern von heute die Eltern von morgen. Sie hat deshalb ein Trainingskonzept für Jugendliche entwickelt, mit dem sie in Berliner Schulen geht. Die Deutschtürkin arbeitet dabei im Tandem mit einem männlichen Kollegen. So wird auch den Jungen in der Klasse eine männliche Identifikationsfigur geboten. Zugleich demonstriert das gemischtgeschlechtliche Team, wie Frauen und Männer gleichberechtigt und respektvoll miteinander umgehen und arbeiten können. Gemeinsam diskutieren sie mit den Jungen und Mädchen über deren Vorstellungen von Ehre, Liebe, Sexualität und Geschlechterrollen.

Besonders in Erinnerung ist ihr ein Dialog, in dem ein Mädchen ein anderes Mädchen gefragt habe: Warum trägst du ein Kopftuch?“
„Es schützt mich.“
Daraufhin fragte ein Junge: „Wovor schützt es dich denn?“
Und sie sagte: „Na, vor den Männern.“
Der Junge: „Aber wieso musst du vor uns geschützt werden?“
In dem Moment, sagt Eren Ünsal, habe sie regelrecht sehen können, wie der Junge ins Nachdenken gekommen sei: „Moment mal… warum müssen Frauen sich schützen vor uns Männern?
Für Ünsal sind das „natürlich schöne Momente, in denen wir sehen, dass solche Trainings auch wirklich was bringen.“

Sowieso Hartz IV

Alle Jugendlichen bräuchten eine identitätsstiftende Verortung in der Gesellschaft, um ihren Weg zu finden, ist Eren Ünsal überzeugt. „Wer von ihnen kaum eine Aussicht auf einen Schulabschluss oder auf einen Ausbildungsplatz hat, mache sich irgendwann auf die Identitätssuche. Manche landen dann bei fundamentalistischem Gedankengut. Oder sie machen einen sogenannten Rollback durch, das heißt, dass sie plötzlich ihr ‚Türkischsein‘ wiederentdecken, was immer das heißen mag.“ Wenn Ünsal Jugendliche fragt: „Was willst du denn einmal werden?“ Dann höre sie viele ziemlich frustriert-ironisch sagen „Ich werde sowieso Hartz IV“.

Nach Ansicht des jungen Kenan müssen seine Altersgenossen erst einmal einen Sinn in ihrem Leben finden. Ein Problem, das sie auch in der Türkei hätten, meint er. Dort nähme die Schülergewalt ebenso zu. „Wenn man ihnen sagt: ‚Du musst, du musst‘, aber keine Gründe dafür gibt, dann hat es keinen Sinn. Man muss sagen: ‚Guck, wenn du arbeitest, wenn du lernst, das ist alles für dich. Das ist nicht für uns‘.“ Sein eigener Vater sei ihm selbst ein solches Vorbild gewesen, sagt Yalcin. Er habe dem Sohn klar gemacht: Von dem Geld, das der Sohn verdiene, hätte der Vater nichts – sondern nur er selbst. „Mein Vater sagt immer: ‚Du willst doch einmal in einem schönen Haus wohnen mit deiner Familie, Also lerne, lerne, lerne!'“ Diesem Rat seines Vaters folgt Kenan gern.


Das originale Radiofeature lief unter anderem beim Bayerischen Rundfunk und beim Schweizer Rundfunk DRS (jetzt SRF).

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