Beobachtungen und Fragen in eigener Sache: Wie viel gilt das Credo eines unparteiischen Journalismus noch? Einige Beispiele
Die Bilder sind verstörend: An der ungarisch-serbischen Grenze durchbrechen Hunderte von Flüchtlingen einen Polizeikordon. Ein Polizist versucht, einen Mann an seiner Jacke zu greifen. Der Mann trägt ein Kind auf dem Arm. Er kann sich los reißen und rennt davon. Kommt aber nicht weit: Eine Kamerafrau des ungarischen Senders N1TV bringt ihn mit ihrem ausgestreckten Bein zu Fall.
Das Video dieser Szene ging um die Welt. Die Empörung war groß. Geschehen im Jahr 2015.
1. Mai 2021 in Weimar: Trotz Verbots versammeln sich Corona-Maßnahmen-Gegner in der Stadt, machen sich daran, den Polizeikordon zu durchbrechen. Ein Mann schafft es. Eine Handvoll Polizisten versuchen, ihn zu ergreifen. Er rennt davon, kommt aber nicht weit: Ein Mann bringt den Flüchtenden mit seinem ausgestreckten Bein zu Fall. Der Mann ist Sebastian Scholz, Geschäftsführer des Landesverbandes Thüringen des Deutschen Journalisten-Verbands, DJV.
Über das Video dieser Szene sind bisher – mit Ausnahme der in diesem Artikel genannten beiden Medien – nur Artikel sogenannter alternativer Medien online zu finden.
Frage: Was macht den Unterschied?
Dass die erste Szene in Ungarn spielt, die zweite in Deutschland? Dass das ausgestreckte Bein in Ungarn einen syrischen Flüchtling zu Fall brachte, in Weimar einen Corona-Maßnahmen-Gegner? Dass die Kamerafrau Petra László beruflich vor Ort war, der Geschäftsführer des DJV-Thüringen nach eigenen Angaben privat? Dass Petra László für einen rechtsgerichteten TV-Sender arbeitete, Sebastian Scholz Geschäftsführer eines angesehenen Journalistenverbands ist?
Frage: Sollten diese Unterschiede einen Unterschied machen?
Petra László wurde nach ihrem Fehlverhalten entlassen, danach von einem Gericht zunächst zu einer Bewährungsstrafe von drei Jahren verurteilt, am Ende aber frei gesprochen. Gegen Sebastian Scholz ist nach Angaben der Pressestelle der Landespolizeidirektion Thüringen anhand des Videos eine Anzeige wegen Körperverletzung durch eine Privatperson erstattet worden.
Im Video hatte Sebastian Scholz sein Eingreifen damit begründet, er sei „nicht schnell genug weg gekommen“. Am 12.05.2021 postet ZDF Frontal21 auf Twitter ein kurzes Video mit Scholz, der nun angibt, er habe bewusst eingegriffen. Und sagt: „Ich war der festen Überzeugung, richtig gehandelt zu haben.“
Der DJV Thüringen beklagt in einer Pressemitteilung vom 11.05.2021 Drohanrufe und Hass-Mails gegen Sebastian Scholz und die Geschäftsstelle. Darüber hinaus begrüßen die Vorstandsmitglieder „seinen zivilcouragierten Einsatz“. Am Tag darauf berichtet die Thüringer Allgemeine, Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) bedanke sich bei dem DJV-Geschäftsführer, weil er gezeigt hätte, dass Thüringen kein rechtsfreier Raum sei.
Jegliche Drohungen gegen Sebastian Scholz und den DJV Thüringen sind selbstverständlich zu verurteilen.
Denoch ist die Frage berechtigt: Was sagt dessen Verhalten und die Reaktion des DJV-Landesverbandes aus über ihr Selbstverständnis und ihr Verhältnis zu Grundsätzen des Journalismus?
„Ein guter Journalist ist einer, der sich mit keiner Sache gemein macht, auch nicht mit einer guten.“
Hanns Joachim Friedrichs
Frage: Ist dieses Jahrzehnte währende Berufsethos inzwischen ad acta gelegt?
Wie viel gilt unabhängiger, unparteiischer Journalismus noch?
Ist „Haltungsjournalismus“ die Antwort?
Ein Beispiel lieferte der Berliner „Tagesspiegel“: Nach der Video-Aktion #allesdichtmachen von rund 50 SchauspielerInnen veröffentlichte die Tageszeitung eine Reihe von Artikeln, die die KünstlerInnen im rechten politischen Lager verorteten. Zu ihnen zählten die AutorInnen der Artikel auch den Arzt Paul Brandenburg, Gründer der Initiative 1bis19. Als KoautorIn war das „Recherchenetzwerk Antischwurbler“ angegeben, deren Mitglieder jedoch anonym blieben. In den nachfolgenden Tagen korrigierte und entschärfte die Tagesspiegel-Redaktion mehrfach ihre Texte. Sie gestand „handwerkliche Fehler“ ein, zu denen u.a. gehört, dass sie Herrn Brandenburg keine Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt hatte. Dies holte der Tagesspiegel am 11.05.2021 in einer live gestreamten Diskussion mit dem Arzt nach, bei dem die stellvertretende Chefredakteurin Anna Sauerbrey auch um Entschuldigung bat.
Bis dahin waren bereits mehrere sogenannte Qualitätsmedien auf den Zug aufgesprungen und hatten die Darstellungen des Tagesspiegel übernommen. Immer wieder wurde den MacherInnen der Videos vorgehalten, sie hätten auch „Beifall von der falschen Seite“ erhalten. Gemeint waren „Querdenker“, AfD etc.
Auch auf dem Blog des Deutschen Journalisten-Verbands erschienen zwei Kommentare, die in dieses Horn bliesen: Am 23.04.2021 attestierte der stellvertretende Pressesprecher Paul Eschenhagen unter dem Titel „Nicht mehr ganz dicht…“ den beteiligten SchauspielerInnen, sie hätten „so richtig ins warme Braune gegriffen“. Drei Tage später legte Mika Beuster, Beisitzer im Bundesvorstand, unter dem Titel „Maximale Erregung, minimale Erkenntnis“ nach.
Ob die Videos gefallen oder nicht…
Frage: Sollten VertreterInnen eines Journalistenverbandes nicht zuallererst die Meinungsfreiheit verteidigen, die die KünstlerInnen in dieser Aktion für sich in Anspruch genommen haben?
Das medienkritische Video von Jan Josel Lievers, eines Mannes, der in der DDR enorme Zivilcourage bewies, könnte (uns) Medienschaffende dazu anregen, selbstkritisch innezuhalten und zu fragen, ob an seinem Statement ein Körnchen Wahrheit sein könnte.
Frage: Oder sollten KünstlerInnen und JournalistInnen sich selbst zensieren aus Angst vor dem „Beifall von der falschen Seite“?
„Die Angst vor dem „Beifall von der falschen Seite“ ist nicht nur überflüssig. Sie ist ein Charakteristikum totalitären Denkens. Kritik, die ihr Konzessionen macht, ist durch keinen Hinweis auf taktische Überlegungen zu rechtfertigen; sie ist hinfällig“.
Hans Magnus Enzensberger