Interview mit der Migrationsforscherin Sandra Kostner
Im Österreichischen Rundfunk habe ich Ayaan Hirsi Alis Buch „Beute“ vorgestellt. Ihre These: Die Massenzuwanderung von jungen muslimischen Männern bedrohe die Rechte und Freiräume von Frauen. Die Regierungen Europas hätten bei der Integration dieser Männer kläglich versagt.
Sandra Kostner berichtet, wie sie die Problematik als Wissenschaftlerin einschätzt.
RH: Inwieweit hat die Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali recht, wenn sie Sexualdelikte als Spitze des Eisbergs dafür sieht, wie die Zuwanderung von vielen muslimischen Männer sich auf das Leben von Frauen auswirkt?
Sandra Kostner: Die Kriminalstatistiken der Länder, die 2015 und 2016 viele junge, männliche Fluchtmigranten aufgenommen haben, verzeichnen in den Folgejahren einen Anstieg an Sexualdelikten. Die Statistiken zeigen auch, dass schwere Sexualdelikte überproportional häufig von Fluchtmigranten begangen wurden. Was die schweren Straftaten betrifft, ermöglichen Statistiken eine recht gute Einschätzung der Lage. Hingegen muss man von einem erheblichen Dunkelfeld ausgehen in Bezug auf weniger schwere Delikte, wie sexuelle Belästigungen. Wir wissen nicht, wie viele Frauen davon betroffen sind. Und wir wissen nicht, wie viele Frauen aus Sorge vor möglichen sexuellen Übergriffen oder Belästigungen ihr Verhalten geändert haben – indem sie zum Beispiel bestimmte Straßenzüge, Plätze oder öffentliche Verkehrsmittel zu bestimmten Uhrzeiten meiden, sich bedeckter kleiden usw. Dazu gibt es zwar anekdotische Berichte, wie sie auch Ayaan Hirsi Ali anführt, aber keine quantitativen Studien. Solche Studien müsste man durchführen, um zu belastbaren Aussagen zu kommen. Aber genau davor scheut die Forschung zurück.
RH: Aus welchem Grund?
Kostner: Das hat viel damit zu tun, dass die Sozialwissenschaften zunehmend von postkolonialen Theorien geprägt sind, die einem ebenso einfachen wie starren Schema folgen: Der Westen habe den Rest der Welt kolonialisiert, wodurch die Welt in Unterdrücker und Unterdrückte unterteilt worden sei. Die Unterdrückung sei dabei mit rassistischen Narrativen gerechtfertigt worden. Aufgrund ihrer Herkunftsländer gelten Fluchtmigranten in den Augen von Vertretern postkolonialer Theorie automatisch als Opfer des rassistischen und unterdrückerischen Westens. Entsprechend sehen Sie ihre Aufgabe darin, den „Unterdrückten dieser Erde“ zu ihrem Recht zu verhelfen. Das führt dann dazu, dass sie im Zweifelsfall mehr darum bemüht sind, die „Opfer des Westens“ vor Rassismus zu schützen, als Frauen vor Sexismus.
RH: In den Kriminalstatistiken ist nicht spezifisch angegeben, dass es sich bei den Gewalttätern um muslimische Einwanderer handelt.
Kostner: Das stimmt. Wenn man aber den Aufenthaltsanlass Asyl berücksichtigt und den Zeitpunkt der Vergehen, kann man davon ausgehen, dass die meisten aus mehrheitlich muslimischen Ländern kommen. Allerdings darf man daraus nicht den statistischen Kurzschluss ziehen, dass die Religion ursächlich für die Straftaten sei. Sie gehört zu den lebensweltlichen Prägungen von Menschen, die Handlungen hervorbringen können. Aber es gibt viele andere Einflussfaktoren. Es geht allerdings gleichermaßen an der Realität vorbei, wenn man, wie postkolonial orientierte Wissenschaftler, nicht wahrhaben will, dass es solche lebensweltliche Prägungen gibt, die das Denken und Handeln von Menschen beeinflussen.
RH: Ayaan Hirsi Ali schreibt in ihrem Buch, die Leidtragenden seien in erster Linie nicht die westlichen Frauen, sprich Nicht-Musliminnen, sondern Musliminnen.
Kostner: Wenn man die Wertekonflikte, die real existieren, negiert, kommt das letztendlich denjenigen zugute, die in patriarchalisch orientierten – in diesem Fall muslimischen – Communities die Machtposition innehaben. Diese Personen haben natürlich kein Interesse daran, dass Mädchen und Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen. Wenn weggeschaut wird, weil in der Politik und Institutionen die Sorge vorherrscht, mit dem Vorwurf des „antimuslimischen Rassismus“ überzogen zu werden, schränkt das die Chancen von Mädchen und Frauen auf die Wahrnehmung gleicher Freiheitsrechte ein.
RH: Ayaan Hirsi Ali ist auch der Ansicht, dass man, wenn man von Flüchtlingen verübte Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung kleinredet, zugleich Rechtspopulisten stärken würde.
Kostner: Wenn keine andere politische Partei dieses Problem benennt und offensiv angeht, dann können Rechtspopulisten davon profitieren. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Überrepräsentation von Flüchtlingen unter den Sexualstraftätern über längere Zeiträume besteht und es immer wieder zu schweren Straftaten kommt, über die entsprechend intensiv in den Medien berichtet wird. Wenn die anderen politischen Parteien dann auch noch bei einer Rhetorik Zuflucht suchen, die die Täter in Schutz nimmt, können sich Rechtspopulisten als Bewahrer von Frauenrechten profilieren. Diese Instrumentalisierung von Straftaten verfängt bei einem Teil der Wählerschaft, der den Eindruck gewinnt, „der“ Politik sei die einheimische Bevölkerung egal, weil sie sich im Zweifelsfall vor die eingewanderten Straftäter stellt.
RH: Wie das nach den Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln passiert ist.
Kostner: Köln steht geradezu exemplarisch für diese Strategie des Wegerklärens, die immer nach dem gleichen Muster funktioniert: Man lenkt die Aufmerksamkeit weg von dem, was passiert ist, und darauf, ob und wie Rechtspopulisten die Taten zu instrumentalisieren versuchen. Genau das ist nach Köln passiert: Der Diskurs wurde schnell umgelenkt – weg von dem, was in dieser Nacht passiert war, hin dazu, wie die Übergriffe insbesondere von der AfD für ihre flüchtlings- und muslimfeindliche Agenda genutzt wurden.
RH: Mit der Folge, dass inzwischen viele Menschen keine Kritik mehr üben, aus Angst, sie könnte von der AfD zum Diskurs genutzt werden.
Kostner: Die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite ist inzwischen in großen Teilen der Bevölkerung als „Diskurskeule“ verankert. Ich beobachte das regelmäßig bei Vorträgen, wenn ich Integrationsprobleme offen anspreche. Zuverlässig meldet sich dann jemand im Publikum und sagt: „Ich finde sehr gut, dass sie das thematisieren, aber Sie wissen schon, dass die AfD das auch sagt.“ Darauf antworte ich immer: „Daraus schließe ich, dass Sie sich von der AfD vorschreiben lassen, was Sie zu denken und zu sagen haben.“ Das wird dann empört mit den Worten „Nein, das tue ich nicht!“ zurückgewiesen. Darauf insistiere ich: „Doch, das tun Sie – mit dem Verweis darauf, dass die AfD das auch sagt. Damit übertragen Sie der AfD die Macht darüber, was letztlich in diesem Land von ‚respektablen‘ Bürgern gesagt und gedacht werden kann.“
RH: Wie lässt sich diese Entwicklung wieder zurückschrauben?
Kostner: In dieser Gesellschaft muss wieder ein Klima entstehen, in dem Menschen einander zuhören und versuchen, die Argumente des anderen zu verstehen – anstatt Andersdenkende moralisch zu verurteilen. Diesen Hang zum Verurteilen findet man vor allem bei Personen, die im Alltag Wertekonflikten aus dem Weg gehen können. Wissenschaftler erleben reale Wertekonflikte selten in ihrer Lebenswelt. Und weil sie die Konflikte im Alltag nicht selbst austragen müssen, fällt es ihnen leicht, diese wegzuerklären. Das tun sie auch Praktikern gegenüber. Wenn diese von negativen Erfahrungen berichten, werden sie von Wissenschaftlern gern darüber „aufgeklärt“, dass das Problem nicht bei den Migranten läge, sondern bei der strukturell rassistischen Mehrheitsgesellschaft. Wir müssen aber gerade denjenigen zuhören, die tagtäglich hautnah erleben, wie lebensweltliche Prägungen das Verhalten von Menschen beeinflussen, und was deshalb bei der Integration gut läuft und was nicht.
RH: Dann müssten insbesondere die Beschäftigten an der Basis die Zivilcourage haben, aus dem Nähkästchen zu plaudern, was in ihrem Bereich schiefläuft.
Kostner: Ja, das wäre wichtig. Sie müssten ihre Erfahrungen gegenüber ihrem Arbeitgeber offen ansprechen können. Bei vielen sozialen Dienstleistern mangelt es in dieser Hinsicht an einem offenen Gesprächsklima sowohl der Kollegen untereinander als auch gegenüber Leitungsebenen. An erster Stelle steht oft „Diversitätssensibilität“. Wenn man feststellt, dass es Probleme gibt, die mit unterschiedlichen kulturell-religiösen Wertvorstellungen zu tun haben, wird das als ein Ausdruck mangelnder Sensibilität interpretiert. Man muss bedenken, dass viele in der Flüchtlingsarbeit befristet beschäftigt sind. Das heißt, sie wissen, um verlängert zu werden, dürfen sie nicht unangenehm auffallen. Insofern ist es nachvollziehbar, dass sie sich oft sehr allein gelassen fühlen und sich nicht offen äußern.
RH: Wie kommen Sie als Wissenschaftlerin mit diesem Problem in Berührung?
Kostner: Bei Vorträgen vor Praktikerinnen und Praktikern habe in den letzten Jahren immer wieder erlebt, dass, wenn ich als Migrationsforscherin vorgestellt werde, das Publikum erst einmal mit einer klar wahrnehmbaren Reserviertheit reagiert. Wenn ich dann die Probleme, denen sie im Berufsalltag begegnen, offen anspreche, entspannt sich das Publikum innerhalb kürzester Zeit. Hinterher sagen viele: „Es war wohltuend, dass das mal jemand aus der Wissenschaft ausgesprochen hat.“ Und sie berichten dann auch von ihren Erlebnissen, weil sie das Gefühl haben, jetzt ist der Raum geöffnet, um endlich mal offen zu reden.
RH: In ihrem Buch „Identitätslinke Läuterungsagenda“ geben Sie Neu-Feministinnen sowie Vertreterinnen und Vertretern des Postkolonialismus eine Mitschuld an diesen Verhältnissen. Ihr Vorwurf: Sie würden mit ihrem Kulturrelativismus zur Aufrechterhaltung von kulturell-religiösen Praktiken beitragen, die insbesondere Mädchen und Frauen die Inanspruchnahme ihrer Freiheitsrechte erschweren.
Kostner: Das Problem ist, dass diese Personen nach dem Motto agieren: „Läuterung first, Gleichberechtigung der Geschlechter second“. Das heißt, sie gehen sehr selbstbezogen vor, weil ihr Hauptinteresse darin besteht, sich als geläutert von der „rassistischen Erbsünde des Westens“ zu inszenieren. Jede Kritik an nichtwestlichen kulturell-religiösen Praktiken steht unter Rassismus-Verdacht. Das führt dazu, dass man Menschen nicht nach den gleichen Maßstäben bewertet. Universelle Menschenrechte erklärt man zu Instrumenten hegemonialer Dominanz, die Westler nutzen, um Nichtwestler weiterhin unterdrücken zu können. Wo es keine universellen Menschenrechte gibt, gibt es natürlich auch keine universellen Frauenrechte. Stattdessen gibt es „kultur- oder religionsgerechte“ Frauenrechte. Also Gleichberechtigung, im Sinne von gleichen Rechten, für westliche Frauen – und eine im Einklang mit „ihrer“ Kultur oder Religion stehende Form der „Gleichberechtigung“ für nichtwestliche Frauen. Was eben bei der Scharia darauf hinausläuft, dass Frauen nicht die gleichen Rechte haben.
RH: Was ist also der nächste Schritt?
Kostner: Wenn wir es ernst damit meinen, dass alle in diesem Land nicht nur die gleichen Rechte haben, sondern diese auch wahrnehmen können, dann müssen wir uns endlich eine Wahrheit eingestehen: In bestimmten Communities können Frauen – und Mädchen noch mehr, weil sie in einer noch schwächeren Position sind – diese gleichen Rechte nicht leben. Und diesem Eingeständnis muss dann auch ein entsprechend verändertes Handeln folgen.
Sandra Kostner ist Historikerin und Soziologin mit dem Schwerpunkt Migrationsforschung. Seit 2010 ist sie Geschäftsführerin des Masterstudiengangs „Interkulturalität und Integration“ an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Sie gab u.a. den Sammelband „Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften?“ (2019) heraus und schrieb das Vorwort zu „Die Spaltung Amerikas“ von Arthur M. Schlesinger (2020). Im Februar 2021 begründete Sandra Kostner das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit mit. Zum 20. Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center erscheint im September 2021 ihre Anthologie Lehren aus 9/11. Zum Umgang des Westens mit Islamismus, Mitherausgeberin ist Elham Manea.